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„Kein Schlussstrich“

Öffentliche Informationsveranstaltung zu den Ergebnissen der Untersuchungen von auf dem Campus der Freien Universität entdeckten Knochen

26.02.2021

Die Universitätsbibliothek mit angeschlossenem Henry-Ford-Bau, am oberen Bildrand das Gebäude Ihnestraße 22, vor der Gründung der Freien Universität im Jahr 1948 Sitz des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik".

Die Universitätsbibliothek mit angeschlossenem Henry-Ford-Bau, am oberen Bildrand das Gebäude Ihnestraße 22, vor der Gründung der Freien Universität im Jahr 1948 Sitz des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik".
Bildquelle: Bavaria Luftbild

Das Interesse an der öffentlichen Informationsveranstaltung, zu der die Freie Universität Berlin gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft und dem Landesdenkmalamt Berlin für den 23. Februar nachmittags eingeladen hatte, war groß: Etwa 280 Interessierte aus dem In- und Ausland – darunter Beschäftigte der Universität, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Mitglieder von Opfer- und Interessensgruppen sowie allgemein Interessierte – nahmen an der Webex-Veranstaltung teil, bei der die Untersuchungsergebnisse zu den 2015 und 2016 auf dem Dahlemer Campus der Freien Universität Berlin aufgefundenen menschlichen und tierischen Knochen sowie zu assoziierten Gegenständen vorgestellt und das weitere Vorgehen besprochen wurde.

Die Fragmente waren bei Bauarbeiten und gezielten archäologischen Grabungen auf dem Außengelände der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin im Umkreis des ehemaligen „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ (KWIA) aufgefunden worden. Heute ist in dem Gebäude das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der 1948 gegründeten Freien Universität untergebracht.

Unter der Leitung von Archäologieprofessorin Susan Pollock vom Institut für Vorderasiatische Archäologie wurden 2015 und 2016 bei weiteren, durch die Funde von Knochen im Jahr 2014 veranlassten Grabungen auf dem Gelände insgesamt etwa 16.000 menschliche Knochenfragmente geborgen.

Arbeitsgemeinschaft Gedenkstein seit 2015

Bevor Susan Pollock ihren Abschlussbericht vorstellte und der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl einen Einblick in die Tätigkeit des KWIA von 1927 bis 1945 gab, begrüßte Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler im Namen der drei Veranstalter das Plenum: Er freue sich über das große Interesse und auf eine „würdige Veranstaltung und Diskussion“.

Seit März 2015 befasse sich an der Freien Universität Berlin die „Arbeitsgemeinschaft Gedenkstein“ mit den Knochenfunden, erläuterte der Universitätspräsident. In der AG sind neben der Freien Universität auch die Max-Planck-Gesellschaft – als Nachfolge-Organisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – und das Landesdenkmalamt Berlin.

Wegen eines vermuteten Bezugs zur Zeit des Nationalsozialismus wurden auch der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma regelmäßig informiert. Die Leitungen der beiden Zentralräte, Dr. Josef Schuster und Romani Rose, hatten sich zuletzt gegen weitere – das hieße invasive – Untersuchungen der Knochen, die möglicherweise zu neuen Erkenntnissen über deren Herkunft führen könnten, ausgesprochen. Schuster und Rose hatten vielmehr für eine baldige würdige, nichtreligiöse Bestattung plädiert. Über den Ort und die Form der Erinnerung an die Opfer werde auch im Rahmen dieser Veranstaltung beraten, sagte Universitätspräsident Ziegler.

Bei den Grabungen wurden auch Kunststoffmarken sowie Metallaufhänger gefunden ...

Bei den Grabungen wurden auch Kunststoffmarken sowie Metallaufhänger gefunden ...
Bildquelle: Susan Pollock mit Genehmigung des Landesdenkmalamtes Berlin

Susan Pollock zog mit ihrem ausführlichen Bericht ein Zwischenfazit der Untersuchungen ihres Teams: Die Analyse der insgesamt etwa 16.000 geborgenen Fragmente menschlicher Knochen zeige, dass die Knochen von mindestens 54 Menschen aller Altersgruppen sowie männlichen und weiblichen Geschlechts stammen. Reste von Klebstoff und Beschriftungen auf manchen Knochen sowie das Fehlen moderner medizinischer Eingriffe deuteten für viele der Knochen auf die Herkunft aus anthropologischen oder archäologischen Sammlungen hin.

Die Zusammensetzung des Gesamtkorpus entspreche jedoch keiner typischen anthropologischen oder archäologischen Sammlung, wie sie aus dem 19. Jahrhundert oder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt sei, betonte die Archäologin.

... sowie Fragmente von abgeformtem Gips, die wahrscheinlich von Abformungen menschlicher Körperteile stammen.

... sowie Fragmente von abgeformtem Gips, die wahrscheinlich von Abformungen menschlicher Körperteile stammen.
Bildquelle: Susan Pollock mit Genehmigung des Landesdenkmalamtes Berlin

Es sei nicht auszuschließen, dass manche Knochen aus Kontexten stammen, die direkt mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu tun haben. Die Herkunft könne aber nicht eindeutig rekonstruiert werden. Festzuhalten sei, dass die geborgenen Knochenfragmente keinen einheitlichen Ursprung hätten.

Auch Tierknochen seien gefunden worden, was darauf zurückzuführen sei, dass Tiere zu Laborversuchen verwendet wurden. Auf dem Areal, auf dem Anfang der 1950er Jahre die Universitätsbibliothek errichtet worden ist, hätten zu Zeiten des KWIA Stallgebäude für Versuchstiere gestanden, erläuterte Susan Pollock. Zwei Tierknochen, die jedoch nicht von Labortieren stammten, konnten mithilfe der Radiokarbonmethode auf ein Alter von ca. 1200-950 v. Chr. bzw. 1740-1530 v. Chr. datiert werden.

Am Ende ihrer Ausführungen erinnerte die Wissenschaftlerin an die Opfer des Attentats von Hanau im Februar 2020: Die rechtsextremen Verbrechen von heute stünden in direkter Linie zu dem „gewissenlosen Forschungsrassismus“, wie er am KWIA betrieben worden sei.

„Von beklemmender Aktualität“

Dass die Geschichte des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ angesichts des erstarkten Rassismus und Antisemitismus unserer Tage „von beklemmender Aktualität“ sei, befand auch der Historiker Professor Hans-Walter Schmuhl in seinem Vortrag.

In dem 1927 gegründeten Dahlemer Institut – zunächst von Eugen Fischer, von 1942 an durch Otmar Freiherr von Verschuer geleitet – wurde Forschung betrieben, die sich früh in den Dienst des NS-Staats stellte: Als Mitglieder in Beiräten, Expertenstäben und als Gutachter hätten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts mit international exzellentem Ruf die menschenverachtende Forschung zur Rassenhygiene in die Welt getragen und an den Verbrechen des Nationalsozialismus mitgewirkt, sagte der Historiker.

Josef Mengele, der bei Verschuer promoviert worden war, war Gastwissenschaftler am Institut; von Mai 1943 an war er als KZ-Arzt in Auschwitz. Es gebe Hinweise, dass durch Mengeles Vermittlung Skelettteile von Auschwitz nach Berlin geschickt worden seien; ob an das KWIA oder die Berliner Universität lasse sich wissenschaftlich aber nicht eindeutig klären, erläuterte Hans-Walter Schmuhl.

Rege Diskussion im Chat

Die knapp drei Stunden dauernde Veranstaltung wurde von einer regen, auch kontroversen Diskussion im Chat begleitet und kommentiert. Moderatorin Shelly Kupferberg gab dort gestellte Fragen an das Podium weiter. So wollten mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer wissen, warum man nicht auch Dachverbände der Schwarzen, afrikanischen oder afrodiasporischen Community zum Gespräch gebeten habe, als im vergangenen Sommer über die Möglichkeit weiterer Untersuchungen sowie die Bestattung der menschlichen Überreste mit Vertretern der oben genannten Zentralräte gesprochen worden sei – schließlich gehe der Abschlussbericht davon aus, dass ein großer Anteil der Knochenfragmente aus der KWIA-Sammlung mit kolonialem Bezug stamme. Universitätspräsident Günter M. Ziegler zeigte sich als Leiter der AG Gedenkstein offen für Gespräche mit weiteren Gruppen, die zu der laufenden Veranstaltung eingeladen worden seien und die man nun ansprechen wolle. Auch der Wunsch nach einer stärkeren Vernetzung von Vertretungen der beteiligten Opfergruppen kam aus dem Chat.

Auf die Frage, ob sich Freie Universität und Max-Planck-Gesellschaft grundsätzlich in der Verantwortung für das historische Erbe des KWIA sähen, antwortete der Universitätspräsident, dass Geschichte kontinuierlich in Forschung und Lehre sichtbar gemacht werden müsse. Beide Einrichtungen, Freie Universität und Max-Planck-Gesellschaft, nähmen sich dieser Aufgabe an. Grundsätzlich sei ganz Berlin ein Ort, um kulturelles Erbe sichtbar zu machen und zu erforschen.

Projektausstellung soll „historische Schicht“ sichtbar machen

Manuela Bauche beschäftigt sich konkret mit Erinnerungskultur, die auch in Lehrveranstaltungen einfließt: Die promovierte Historikerin mit dem Schwerpunkt in der Geschichte der Lebenswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts stellte das Projekt „Geschichte der Ihnestraße 22“ vor, das auf die Initiative von Studierenden zurückgeht.

Mit ihrem Team entwickelt sie – im engen Austausch mit Selbstorganisationen der relevanten Opfergruppen und eng begleitet von einem wissenschaftlichen Beirat – seit 2019 ein Erinnerungskonzept für den Außen- und Innenbereich des Gebäudes, das 1927 für das KWIA errichtet wurde.

Die Ausstellung, die 2022 fertiggestellt sein soll, solle etwa in Form von Medienstationen und Schildern, die Auskunft über die Verwendung der Räume damals und heute geben, die „historische Schicht“ sichtbar machen, die man unter der aktuellen Nutzung nicht mehr sehe. Bei dem Projekt gehe es auch darum, die mitunter problematischen Beziehungen von Wissenschaft und Politik grundsätzlich ins Zentrum zu rücken, sagte Manuela Bauche.

Gemeinsames Gedenk- und Bildungszentrum

Die Anregung aus dem Plenum, ein gemeinsames Gedenk- und Bildungszentrum von Freier Universität und Max-Planck-Gesellschaft einzurichten, stieß allgemein auf Interesse. Über die Geschichte des KWIA hinaus könnte es dort um die Verfehlungen der Wissenschaft grundsätzlich gehen – beispielsweise in der Kolonial- und NS-Geschichte. Susan Pollock sprach sich für eine solche Einrichtung aus und wies auf die an der Freien Universität bereits bestehende Arbeitsgruppe „Interdisziplinäre Blickwinkel auf die Schattenseiten der (Berliner) Wissenschaften: die Dual-Use-Problematik“ hin.

Dr. Berthold Neizert, Leiter der Abteilung Forschungspolitik und Außenbeziehungen der Max-Planck-Gesellschaft – Generalverwaltung, sieht die Bewusstmachung ethisch verantwortbarer Forschung nicht nur an Orte der Vergangenheit gekoppelt, sondern auch als Teil des Kanons der Ausbildung von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft müsse eine klare Leitlinie für gute wissenschaftliche Praxis im Forscheralltag sein.

Universitätspräsident Günter M. Ziegler unterstützte die Idee einer auf Kontinuität angelegten und erweiterten Erinnerungs- und Bildungsstätte auf dem Campus: „Es darf keinen Schlussstrich geben.“

Weitere Informationen

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Februar 2021: „Kein Schlussstrich“

September 2016: Neue Grube mit menschlichen Knochen an der Harnackstraße entdeckt

Juli 2016: Vermutung bestätigt: weitere Knochenteile gefunden

Juli 2016: Archäologische Untersuchung des Erdaushubs an der Harnackstraße

Februar 2016: Weiterer Fund in der Harnackstraße

November 2015: Erneute Grabung in der Harnackstraße: Archäologen finden Knochenfragmente

Oktober 2015: Neue Grabung soll Gewissheit geben

August 2015: Wissenschaftler finden Tierknochen

Juni 2015: Wissenschaftlicher Blick

Februar 2015: „Unhaltbare Vorwürfe"

Januar 2015: „Ihr, die ihr gesichert lebet…“

November 2014: Gerichtsmedizinischer Bericht zu den Knochenfunden auf dem Campus

Juli 2014: Bauarbeiter stoßen auf menschliche Knochen