„Nach und nach wird die Sprache der Verständigung zerstört“
Am 4. Dezember 2025 feierte die Freie Universität Berlin ihr 77-jähriges Bestehen. In ihrer Festrede mahnte die Publizistin Carolin Emcke, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen
11.12.2025
Carolin Emcke, vielfach ausgezeichnete Publizistin, sprach in ihrer Rede über „Varianten der Unfreiheit“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Happy Birthday Freie Universität Berlin! Weil ein Geburtstag zum Feiern einlädt, aber auch zum Innehalten, nahm Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler den Ernst-Reuter-Tag zum Anlass, um auf das Jahr zurückzuschauen: auf die starken Haushaltskürzungen in der Wissenschaft durch den Berliner Senat. Auf den Erfolg in der Exzellenzstrategie mit der Zusage für fünf Exzellenzcluster, auf das traditionelle Sommerfest und den CampusRun. Er erinnerte auch an Margot Friedländer, die am 9. Mai, in ihrem 104. Lebensjahr, verstorben ist. Vor drei Jahren hatte die Freie Universität der Shoah-Überlebenden und unermüdlichen Verteidigerin von Menschlichkeit die Ehrendoktorwürde verliehen.
Universitätspräsident Günter M. Ziegler: „Eine Universität ist kein Ort letzter Wahrheiten. Eine Universität ist ein Ort offener Fragen. Diese Universität ist kein Ort letzter Wahrheiten. Diese Universität ist ein Ort offener Fragen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Ihre Gründungsgeschichte sei für die Freie Universität verpflichtend: „Das ‚frei‘ in Freie Universität steht für intellektuelle Freiheit“, erklärte der Präsident. Um diese intellektuelle Freiheit zu garantieren und frei von politischem Einfluss lehren, forschen und lernen zu können, hatten Professor*innen und Studierende 1948 die Freie Universität Berlin gegründet. Unterstützt wurden sie dabei vom damaligen Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter; der Gründungstag ist deswegen nach ihm benannt.
Ein Ort für offene Fragen und Diskussionen
In intellektueller Freiheit zu leben, sei jedoch nicht selbstverständlich, sagte Günter M. Ziegler. Im Gegenteil: Die intellektuelle Freiheit sei gefährdet – in vielen Ländern, an vielen Orten. Was Freiheit bedeute, habe Hannah Arendt skizziert. In ihrer Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, die sie anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises in der Stadt Hamburg hielt, spreche Arendt vom „Zwischenraum“. Dieser läge „zwischen den Menschen“ und lässt Arendt zufolge, eine gemeinsame Welt entstehen. Das gelte auch für eine Universität.
Von diesen „Zwischenräumen“ würden eine Universität und die Wissenschaft leben, sagte Ziegler. Von der Gemeinschaft und von Gesprächen, von Streit, Pluralität und Austausch. Vom Dialog zwischen Generationen, Disziplinen und Kulturen. Das heiße nicht, dass Konflikte vermieden werden dürften. Die Freie Universität sei vielmehr der Ort, an dem Konflikte verhandelt und aushaltbar gemacht werden müssen. Ein Ort, an dem gewalt- und diskriminierungsfrei gestritten und diskutiert werden solle. Auch um zu verhindern, dass „Zwischenräume“ verschwinden. Dass Menschen sich in akademische Nischen, ideologische Echokammern oder digitale Parallelwelten zurückziehen, führte der Präsident aus. Dieses Zurückziehen führe in „finstere Zeiten“.
Eine Universität sei kein Ort letzter Wahrheiten, sondern ein Ort offener Fragen. Sie sei ein Ort des Wagnisses, der Offenheit, der Unruhe und gerade darin auch Ort der Hoffnung. „Eine Universität ist ein Ort, an dem wir gegen die Finsternis ankämpfen“, fasste Ziegler zusammen.
Carolin Emcke: Wissenschaft und Forschung „sind nicht Luxus, sondern Kernaufgabe. Sie sind kein Sahnehäubchen, sondern Schwarzbrot“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Freiheit wird umgedeutet und missbraucht
Carolin Emcke, vielfach ausgezeichnete Publizistin, schloss dort an. Wie autoritäre, libertäre und faschistische Bewegungen, Parteien oder Regierungen die intellektuelle Freiheit und das kritische Denken einschränken, zeichnete sie in ihrer Festrede „Varianten der Unfreiheit“ nach. Als erster Schritt in diesem Prozess werde systematisch der Begriff „Freiheit“ umgedeutet und missbraucht, erklärte sie.
Ganz gleich ob Trump, Milei, Órban oder Weidel – diese Politiker*innen stellten den universellen Freiheitsrechten anti-demokratische und diskriminierende Vorstellungen entgegen. Als „autoritären Lückentext“ beschrieb Emcke die dabei verwendeten Narrative, die immer auf Angst basierten: „Was es ist, das die Nation, die Kultur, die Gesellschaft vermeintlich bedroht, ist flexibel einsetzbar. Je nach Land, je nach Lage, ist es etwas anderes, von dem mutmaßlich die existentielle Bedrohung ausgeht“, sagte Emcke.
So würden die Rechte von Migrant*innen oder Transmenschen eingeschränkt, indem sie als angebliche Gefahr für Töchter oder Frauen diffamiert werden. So werde gegen queere Familien vorgegangen, damit vorgeblich die cis-normative Familie geschützt werde. Das Ideal der heterosexuellen Familie werde dabei nur beschworen, solange es um die weiße Mehrheitsgesellschaft ginge. „Wenn es um Familiennachzug bei syrischen, afghanischen oder salvadorianischen Männern geht … dann ist die Familie nur eine Last“, so die Publizistin.
Indem sie den Freiheitsbegriff umdeuteten und gegeneinander ausspielten, verschleierten Autokrat*innen, dass sie Freiheitsrechte beschränken. Das mache es auch so schwer, sich dagegen zu wehren. „So wird nach und nach die Sprache der Verständigung, das Vokabular der Freiheit, das Wörterbuch der Gemeinschaft zerstört“, sagte Emcke.
Experimentell: Eine mit KI entworfene Moderatorin führte durch den Ernst-Reuter-Tag.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit verteidigen
Das Aushöhlen von Freiheitsbegriffen beträfe auch direkt die Universitäten, sagte Emcke. Wissenschaft und Forschung, Erkenntnisgewinn und das Diskutieren von richtig und falsch sei die Grundlage für Demokratie. Autoritäre und rechtsradikale Bewegungen würden hingegen die Angst vor Aufklärung und Institutionen kritischen Denkens teilen. Die Kürzungen des Berliner Senats spielten ihnen deswegen in die Hände und würden durch geschickt platzierte Narrative legitimiert. „Es wird eben von ‚haushalten‘ gesprochen. Vom ‚sparen‘. Von ‚objektiven‘, finanziellen Nöten. Gewiss. Gewiss“, kritisierte Emcke.
Universitäten seien als Orte des kritischen Denkens auch Orte des Protests. Dabei trügen sie eine Verantwortung und dürften nicht unter dem Gebot der Neutralität unbequeme Meinungen oder Protest verbannen, mahnte Emcke. Kritik am Gazakrieg und der Besatzung des Westjordanlandes dürfe, zum Beispiel, nicht per se kriminalisiert oder als antisemitisch eingestuft werden. Universitäten böten vielmehr den Rahmen, um Antisemitismus und Rassismus präzise zu analysieren und eine kritische Auseinandersetzung mit der Shoah, dem Kolonialismus und dem Völkerrecht zu fördern.
Freiheitsrechte zu verteidigen, sei kein gemütlicher und einfacher Weg. „Aber wir haben das Beste, das Schönste, das Beglückendste zu verteidigen, was uns geschenkt wurde“, schloss Carolin Emcke.









