„In Berlin habe ich gemerkt, wie viel mehr ich in Deutschland bewirken kann“
Die 100-jährige Holocaust-Überlebende und Autorin Margot Friedländer wurde am 25. Mai mit der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin ausgezeichnet
27.05.2022
Die Holocaust-Überlebende und Autorin Margot Friedländer hat die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin erhalten. Die Auszeichnung wurde am Mittwoch im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin verliehen. Vorgeschlagen worden war die Ehrung der 100-Jährigen durch den Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften.
Als der Historiker Professor Paul Nolte sie zum ersten Mal mit ihrem neuen Doktortitel anspricht, muss Margot Friedländer lachen. Nicht nur Paul Nolte und der Geschichtsstudent Vincent Bruckmann, die mit Friedländer für ein Podiumsgespräch auf der Bühne sitzen, lachen in diesem Moment einfach mit, auch das Publikum im beinahe vollbesetzten Max-Kade-Auditorium des Henry-Ford-Baus stimmt mit ein.
„Tief bewegt“
Kurz zuvor ist der 100-jährigen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin verliehen worden. Und dieser Augenblick, in dem Margot Friedländer eine Verbindung zu den Zuschauerinnen und Zuschauern schafft, unterstreicht die Kraft ihrer zentralen Botschaft: „Seid Menschen!
„Tief bewegt“ sei sie über die Ehrung, hatte Margot Friedländer zuvor in ihrer Dankesrede gesagt. Sie erinnerte an ihre Mutter, die in Auschwitz ermordet wurde, und an deren letzte Botschaft an sie als Tochter: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Friedländer resümierte: „Ich glaube, ich habe meine Mission in den vergangenen 13 Jahren mehr als erfüllt.“ Im Jahr 2010 entschied die damals 88-Jährige, aus den USA zurück in ihre Heimatstadt Berlin zu ziehen.
„Bei meinen Besuchen in der Stadt hatte ich bemerkt, wie viel mehr ich in Deutschland bewirken kann.“ Schon vorher hatte sie begonnen, Schulklassen zu besuchen, Vorträge zu halten und Lesungen aus ihrer Biografie zu veranstalten. Seitdem erzählt sie unermüdlich von ihrem Leben; bei Veranstaltungen, in Talkshows, sogar vor dem Europäischen Parlament – immer verbunden mit der Warnung vor Antisemitismus und Totalitarismus; diese Mahnung wiederholte sie auch am Mittwochabend an der Freien Universität: „Was Menschen getan haben, weil sie Menschen nicht als Menschen anerkannt haben, darf nie wieder geschehen!“
„Nachbarn wurden zu Verrätern und Mördern“
Dieses Lebenswerk würdigte der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften am 25. Mai im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung mit der Verleihung des Titels „Doktor der Philosophie ehrenhalber“. Die Dekanin des Fachbereichs, Eun-Jeung Lee, zitierte in ihrer Rede aus dem fachlichen Gutachten, dass Margot Friedländers Leistungen als beispielhafte „Bürgerwissenschaftlerin“ weit über das Vermitteln selbst erlebter Geschichte hinausgehen: „Margot Friedländers citizen science steht für eigenständige Formen der Erkenntnis und Reflexion von Vergangenheit, die nicht nur für die Geschichte des Nationalsozialismus unverzichtbar geworden sind, sondern für die Zeitgeschichte und für die Geschichts- und Kulturwissenschaften überhaupt.“
Auch der Präsident der Freien Universität Berlin, Mathematikprofessor Günter M. Ziegler, wies in seiner Rede auf die Vielschichtigkeit von Margot Friedländers Lebenswerk hin: „Als Zeitzeugin leisten Sie etwas, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in dieser Form nicht leisten können. Lebensgeschichten wie Ihre erinnern uns an die Notwendigkeit, uns immer wieder mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen – individuell und institutionell als Universität.“ Obwohl die Freie Universität erst 1948 gegründet worden sei, übernehme sie heute zum Beispiel die Verantwortung zu erforschen und zu erinnern, wie der Dahlemer Campus mit nationalsozialistischen Verbrechen verbunden sei.
Wie allgegenwärtig Geschichte in Berlin ist, betonte auch Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote in ihrem Grußwort. Margot Friedländer lebte in ihrer Kindheit am Köllnischen Park, in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen Standorts der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. „Doch Berlin, das eigentlich Heimat sein sollte, wurde in der Zeit des Nationalsozialismus lebensbedrohlich. Nachbarn wurden zu Verrätern und Mördern.“
„Margot Friedländer lehrt uns, wie man erinnert“
Es erfülle sie mit Demut und Dankbarkeit, dass Margot Friedländer sich ihre Heimatstadt zurückerobert habe und trotz allem Erlebten mit ausgestreckter Hand auf ihre Mitmenschen zugehe. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sagte Gote: „Heute stellen wir die Frage – und manchmal ist es auch ein Hilferuf – wie die öffentliche Aufmerksamkeit für ein Verbrechen lange genug aufrechterhalten werden kann, um es zu verfolgen und Konsequenzen zu ziehen. Margot Friedländer lehrt uns, wie man erinnert.“
Dass Erinnern immer ein Gegenüber brauche, stellte die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, emeritierte Professorin der Universität Konstanz, in ihrer Laudatio für Margot Friedländer heraus. „Erinnerung ist Mitteilung, sie braucht die Nähe und das Interesse anderer Menschen.“ Lange sei die Erinnerung an den Holocaust an einer doppelten Mauer des Schweigens gescheitert: Die Überlebenden hätten vor der Unmöglichkeit gestanden, Worte für das Unsagbare zu finden. Zugleich seien sie in der Nachkriegszeit auf die Ignoranz ihrer Mitmenschen gestoßen.
So wie dieses bleierne Schweigen seit den 1990er Jahren durchbrochen worden sei, habe auch Margot Friedländer ihren Weg gefunden, zu erinnern und andere damit zu berühren. „Es gibt ihre Biografie mittlerweile in vielen Medienformaten, sogar als interaktive 3D-Inszenierung“, sagte Assmann. „Dennoch bleibt jeder persönliche Auftritt von Margot Friedländer für jeden Anwesenden ein besonderes Erlebnis.“
„Sie sprach mein Herz und meinen Verstand an“
Nach Begegnungen mit Zeitzeugen entschieden sich viele Menschen, selbst zu sogenannten sekundären Zeugen zu werden und damit eine persönliche Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen. „Aber junge Menschen müssen dazu auch ermutigt, ermächtigt und gebildet werden. Hier haben die Schulen und Universitäten eine Mitverantwortung.“
Vincent Bruckmann, Student des Masterstudiengangs Public History an der Freien Universität, ist dafür ein Beispiel. Er erzählte in der abschließenden Gesprächsrunde mit Margot Friedländer und Paul Nolte, wie stark der Eindruck war, den die Zeitzeugin auf ihn machte: „Ich erlebte sie bei einer Lesung in der Landeszentrale für Politische Bildung, und danach war es um mich geschehen. Sie sprach tatsächlich mein Herz und meinen Verstand an.“ In der Folge organisierte er im August 2019 eine Lesung an der Freien Universität, zu der so viele Menschen kamen, dass der Student spontan einen größeren Hörsaal organisieren musste.
Von Paul Nolte gefragt, ob ihr öffentliches Leben nicht auch manchmal eine Last sei, schüttelt Margot Friedländer energisch den Kopf: „Ich kann jungen Menschen mitgeben, dass auch sie versuchen sollen, ihr Leben zu machen. Mein Bruder Ralf hatte diese Chance nie.“ Ans Aufhören denke sie deshalb auch mit 100 Jahren noch lange nicht, sagt sie, und muss erneut über sich selbst schmunzeln: „Solange es geht, geht’s!“
Weitere Informationen
Über Margot Friedländer
Die am 21. November 1921 geborene Margot Friedländer musste sich als Jüdin in Berlin vor den Nationalsozialisten verstecken. Ihre Familie wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie selbst wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sie überlebte. Im Jahr 1946 emigrierte sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer, den sie in Theresienstadt kennengelernt hatte, in die USA. Nach dessen Tod 1997 begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Im Jahr 2004 erschien zunächst der Film „Don’t call it Heimweh“, für den sie nach Berlin zurückkehrte. Sechs Jahre später erschien bei Rowohlt ihr Buch „Versuche, dein Leben zu machen“, der Titel nimmt die letzten Worte der Mutter an die Tochter auf.
Den Dialog vor allem mit jungen Menschen hat sich Margot Friedländer zur Lebensaufgabe gemacht. Schon vor ihrer endgültigen Rückkehr aus den USA in ihre Heimatstadt Berlin 2010 besuchte sie Schulklassen, hielt Lesungen und rief zur Wachsamkeit vor Antisemitismus und Totalitarismus auf.
Im August 2019 las die damals 98-Jährige an der Freien Universität Berlin aus ihrem Buch – eingeladen und die Veranstaltung organisiert hatte der Geschichtsstudent Vincent Bruckmann. Er saß nun, an diesem 25. Mai 2022, mit Margot Friedländer und Professor Paul Nolte auf der Bühne bei einem Gespräch über das Wachhalten der Erinnerung an den Holocaust.