Manuskript der Ansprache von Präsident Günter M. Ziegler anlässlich des 77. Gründungsjubiläums der Freien Universität Berlin am 4. Dezember 2025
77. Gründungsjubiläum der Freien Universität Berlin
Ansprache am 4.12.2025
Präsident Prof. Günter M. Ziegler
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine Damen und Herren,
liebe Gäste, Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde, Unterstützerinnen und Unterstützer, Förderinnen und Förderer der Freien Universität,
liebe Studierende,
liebe Musikerinnen und Musiker –
und ganz besonders begrüße ich schon jetzt unsere Festrednerin – liebe Carolin Emcke,
herzlich willkommen zum Ernst-Reuter-Tag der Freien Universität Berlin 2025 und zur Feier des 77. Gründungsjubiläums unserer Universität.
Ein Jubiläum ist mehr als ein Anlass zum Feiern. Es ist ein Moment des Innehaltens – und des Nachdenkens. Über das, was war. Über das, was ist. Über das, was hätte sein und passieren können – siehe die „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können”-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, die noch bis 22. März dort zu sehen ist. Und über das, was unter veränderten Bedingungen verteidigt, neu ausgehandelt und manchmal auch neu gelernt werden muss.
Wenn wir heute, am 4. Dezember, über die Freie Universität sprechen, dann können wir über das sprechen, was sich im letzten Jahr zugetragen, was wir gemeinsam erarbeitet, erreicht, erkämpft oder auch bekämpft, diskutiert und vorangebracht haben – und das war eine Menge. Um nur Einiges zu nennen:
- 4. Dezember 2024: der Ernst-Reuter-Tag mit der Festrede von Jutta Allmendinger und mit Georgette Dee auf der Bühne19. Dezember 2024: Der Abgeordnetenhaus-Beschluss zum Berliner Nachtragshaushalt 2025 bricht die Hochschulverträge vom 16.2.2024 – wir waren mit der Demo #SaveBrainCity vor dem Abgeordnetenhaus
- 2./3. März 2025: Durchgebrannte Kabel unter der Arnimallee/Takustraße führen zu tagelangem Stromausfall und richten massiven Schaden an
- 31. März 2025: Die Grundordnung der Freien Universität tritt in Kraft. Dies ist die erste vollständige „Verfassung“ der FU, sie löst eine Teilgrundordnung aus dem Jahr 1998 ab
- 9. Mai 2025: Unsere Ehrendoktorin Margot Friedländer verstirbt im Alter von 103 Jahren, einen Tag nach dem Jubiläum 80 Jahre Kriegsende; ihr Tod bekommt nationale und internationale Aufmerksamkeit und damit auch ihre Botschaft „Seid Menschen!“
- 22. Mai 2025: Entscheidung für die Förderung von Exzellenzclustern. Die Freie Universität ist mit fünf Clustern, darunter zwei neuen, bundesweit in der Spitzengruppe
- 23.-29. Juni: Unter dem Motto „Woche ohne E“ gestalten wir eine Aktionswoche zum Protest gegen die Kürzungen
- 25. Juni 2025: Sommerfest und Campus-Run
- 23. Juli 2025: Abschluss der Verhandlungen über einen Änderungsvertrag zu den (vom Senat gebrochenen) Hochschulverträgen – begleitet von unserer Demo gegen die Kürzungen vor dem Gebäude der Senatsverwaltung, in dem die Verhandlungen stattfinden
- 15. September: Spatenstich für ein neues Gebäude neben der Rostlaube, das primär der Lehramtsausbildung, aber auch dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaft gewidmet wird
- 17. Oktober: Grimme Online Award für das #LastSeen-Projekt des Selma Stern Zentrums (Dr. Alina Bothe und Team) zur Dokumentation von historischen Fotos von Deportationen im Nationalsozialismus
- 4./5. November: die zweitägige Fortsetzungs-Begutachtung der Berlin University Alliance für die nächste Förderperiode 2027-2033 im Rahmen des Exzellenzstrategie-Wettbewerbs – die Ergebnisse werden am 12. März 2026 verkündet
- 4. Dezember 2025, heute: der Ernst-Reuter-Tag zum 77. Jahrestag der Gründung der Freien Universität
Aber wenn wir heute, am 4. Dezember, über diese Freie Universität sprechen, dann reicht es eben nicht, nur auf Ereignisse der Vergangenheit einzugehen. Dieser Tag gibt auch Anlass, uns darüber zu vergewissern, was eine Universität, unsere Universität, auszeichnet und auszeichnen sollte.
Die Preisträger und Preisträger*innen der Ernst-Reuter-Preise 2025, der Dissertationspreise der Freien Universität, haben in den Dankesworten heute Nachmittag schon darauf hingewiesen, sie haben auf die intellektuelle Freiheit als wichtigsten Aspekt der Rahmenbedingungen hingewiesen, unter denen sie so hervorragend promoviert haben. Und intellektuelle Freiheit: Dafür ist diese Universität am 4. Dezember 1948 gegründet worden, dafür trägt sie die Freiheit im Namen.
Universitäten sind besondere Orte. Sie sind zugleich Speicher des Vergangenen, Labor des Gegenwärtigen und Werkstatt der Zukunft. In ihnen ruhen Jahrhunderte des Wissens, in ihren Seminarräumen – und auf den Fluren und in den Mensen – werden die drängenden Fragen unserer Zeit verhandelt, und in den Köpfen junger Menschen entstehen Ideen, die unsere Gesellschaft von morgen prägen werden.
Doch keine dieser Funktionen ist selbstverständlich. Keine ist garantiert. Und keine ist denkbar ohne ein Fundament, das so oft beschworen und dabei immer wieder infrage gestellt wird: die Freiheit. Die Freiheit zu denken. Die Freiheit zu fragen. Die Freiheit zu widersprechen. Die Freiheit, Irrtümer zu begehen – und aus ihnen zu lernen.
Aber ist damit hinreichend beschrieben, was diese Freiheit ist und sein soll?
Mir scheint nicht! Und ich denke, dass uns Hannah Arendt hier weiterhelfen kann. Arendt – Philosophin, Publizistin und scharfsinnige Analytikerin der totalitären Systeme –, deren Todestag sich just heute, am 4. Dezember, zum 50. Mal jährt und die insofern eine starke Verbindung zur Freien Universität aufweist, als hier, an dieser Universität, seit 2018 die Kritische Gesamtausgabe ihres Werks ediert wird. Am 12. Dezember wird es eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zu Hannah Arendt an der FU geben.
Vor zwei Jahren, 2023, im 75. Jubiläumsjahr der Freien Universität, sprach ich eines Abends mit dem Philosophen Homi Bhabha, Professor an der Harvard-Universität. Bhabha erhielt vor 13 Jahren, am 31. Mai 2012, die Ehrendoktorwürde vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, und wir sprachen an dem Abend unter anderem über Freiheit und was sie für uns und die Universität bedeutet.
Bhabha verwies in diesem Zusammenhang auf Hannah Arendts Dankesrede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises der Stadt Hamburg, den sie 1959 als erste Frau und erste Jüdin erhielt. Ihre Rede trägt den bewegenden Titel: „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing“. Die Rede kannte ich nicht, und ich bin Bhabha sehr dankbar für den Hinweis. Aber diese Rede von Hannah Arendt behandelt nicht nur die Freiheit. Sie führt uns wesentliche Aspekte vor Augen, um die es auch in und an einer Universität gehen sollte, ja gehen muss!
Erlauben Sie mir daher, diese Rede heute etwas weiter auszuleuchten. Hannah Arendt – und ich verzichte hier auf einen biographischen Abriss – fokussiert in ihrer Rede auf den öffentlichen Raum – auf das, was sie den „Zwischenraum“ nennt, der „zwischen den Menschen“ liegt und der ihr zufolge überhaupt erst eine gemeinsame Welt entstehen lässt.
Gerade dieser Zwischenraum war es, der Hannah Arendt damals stark gefährdet schien. Heute scheint es mir ebenso, wenn nicht gar stärker. Und Arendts Aktualität ist frappierend. Die Gefährdung dieses Zwischenraums betrifft auch eine Universität wie die unsere. Denn die lebt von jenem Raum des Gesprächs, des Streits, der Kritik, der Pluralität und des Austauschs; ohne den Zwischenraum gibt es keine Wissenschaft! Vielleicht ist diese Gefährdung des Zwischenraums auch eine Ursache dafür, dass wir heute häufiger über Sicherheit als über Freiheit sprechen. Dabei herrscht oft ein enges Sicherheitsverständnis vor – als Schutz vor etwas: Schutz vor Zumutung, vor unbequemen Gedanken, vor Widerspruch oder vor Irritation. Wir brauchen hingegen ein weites Verständnis: Schutz für jenen öffentlichen Raum, in dem wir uns versammeln, austauschen, streiten und Öffentlichkeit, ja, „Welt“ (so Arendt) bilden.
Genau hier, an diesem Punkt, ist Lessings Wirken für Arendt zentral. Denn Lessing war für Arendt jemand, der nicht Wahrheit erzwingen wollte, sondern Gespräch. Ihm sei es eben nicht darum gegangen, „Erkenntnisse mit[zu]teilen, sondern andere zum Selbstdenken an[zu]regen, und dies eigentlich für keinen anderen Zweck, als um ein Gespräch zwischen Denkenden in Gang zu bringen“. Wenn wir daher an Sicherheit denken, auch an Sicherheit an einer Universität, dann kann das aus meiner Sicht nicht heißen, dass wir allein darauf zielen, Konflikte auszuschließen. Worum es uns viel stärker (wieder) gehen muss, ist vielmehr, diese Konflikte aushaltbar zu machen.
Sicher, um nicht falsch verstanden zu werden: Vor Gewalt, Einschüchterung, Diskriminierung braucht es Schutz und darauf achten wir – mit allem Nachdruck! Gleichzeitig können und wollen wir aber keinen Schutz vor intellektueller Zumutung bieten.
Eine Universität ist kein Ort letzter Wahrheiten.
Eine Universität ist ein Ort offener Fragen.
Diese Universität ist kein Ort letzter Wahrheiten.
Diese Universität ist ein Ort offener Fragen.
Mit Blick auf Lessing geht Arendt in ihrer Rede sogar noch weiter. Ihr zufolge sei Lessing froh gewesen, dass es keine absolute Wahrheit zwischen Menschen gibt, „um der unendlichen Möglichkeiten der Meinungen willen, in denen die Welt zwischen den Menschen besprochen werden kann“.
Demgegenüber diagnostizierte Arendt ihrer Gegenwart – und das war 1959! – eine Tendenz des „Rechthabens“ und des Rechthaben-Wollens. Ich frage Sie alle: Gilt das nicht auch für unsere Zeit, in Tendenzen auch für unseren Campus, wenn wir erleben, wie in sozialen Netzwerken, in politischen Diskussionen, in Seminaren aus Meinungen schnell Identitäten werden – und aus Differenzen Feindschaften?
Lessing hingegen, so Arendt, sei einer gewesen, der „sein Denken nie an Resultate band“, der auf „Resultate, sofern sie die endgültige Auflösung von Schwierigkeiten bringen sollten, […] ausdrücklich verzichtete, und zwar sogar um den Preis der Wahrheit, weil ja jede Wahrheit notwendigerweise das Denken als reine Tätigkeit zum Stillstand bringen muß“. Weil für Lessing, so Arendt, „zwingendes Argumentieren“, mit dem man das Denken anderer zu „beherrschen suche“, für die „Freiheit gefährlicher [sei] als die Orthodoxie.“ „Zwingendes Argumentieren“ führe dazu, dass Menschen sich aus der Öffentlichkeit zurückzögen. Das ist es, was Arendt als „Weltflucht“ bezeichnet, und diese führe geradewegs in „finstere Zeiten“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was heißt das für uns?
Aus meiner Sicht muss es uns darum gehen, zu verhindern, dass Menschen sich in individuelle Rückzugsräume verabschieden – seien es nun akademische Nischen, ideologische Echokammern oder digitale Parallelwelten. Eine Universität – dieser Mikrokosmos einer Gesellschaft oder genauer einer werdenden Gesellschaft – lebt von der Gemeinsamkeit ihrer Mitglieder und dem Austausch mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren: Sie lebt vom offenen Campus, vom Dialog zwischen Generationen, Disziplinen und Kulturen, sie lebt von den „Zwischenräumen“.
Wenn wir Hannah Arendt ernstnehmen, dann besteht Freiheit nicht nur in äußeren Rechten, sondern in wirklichen Erfahrungen von Handlungs- und Gesprächsräumen. Und Unfreiheit beginnt nicht erst bei Verboten – sondern bereits dort, wo Sprache verarmt, wo Verunsicherung oder gar Angst wächst, wo Selbstzensur oder Anpassung Raum greifen und wo Differenz als Zumutung oder gar Bedrohung erscheint. Genau an dieser Stelle führt uns Hannah Arendts Rede direkt zum Festvortrag von Carolin Emcke mit dem Titel „Varianten der Unfreiheit“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder der Freien Universität, liebe Freundinnen und Freunde, ich glaube, eine Universität, die Hannah Arendt ernstnimmt, ist kein Ort der Gewissheiten. Sie ist ein Ort des Wagnisses. Der Offenheit. Der Unruhe. Und gerade darin: der Hoffnung. Eine Universität, und damit möchte ich den Bogen zum Titel von Arendts Rede schlagen, ist ein Ort, an dem wir gegen die Finsternis (die sich ausbreitende Finsternis?) ankämpfen.
In diesem Sinne: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit – und freue mich nun sehr, das Wort an Carolin Emcke zu übergeben mit ihrem Festvortrag: „Varianten der Unfreiheit“.
