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1.163 Arten zu leben

Das Living Lab Multispecies Campus fördert urbane Artenvielfalt und erforscht deren Auswirkung auf das Wohlbefinden von Menschen

27.01.2025

Das Living Lab Multispecies Campus gestalten unter anderem (v.l.n.r.) Luiza Olos, Sophie Lokatis, Janet Wagner, Zeno Porro, Leon von Salisch, Jan Keller, Florian Ruhland, Clara Schwedler und Tanja Straka.

Das Living Lab Multispecies Campus gestalten unter anderem (v.l.n.r.) Luiza Olos, Sophie Lokatis, Janet Wagner, Zeno Porro, Leon von Salisch, Jan Keller, Florian Ruhland, Clara Schwedler und Tanja Straka.
Bildquelle: Marion Kuka

Wussten Sie, dass die Freie Universität vermutlich die erste Universität mit einem eigenen Natur-Ranger ist? Leon von Salisch hat diese Aufgabe 2023 übernommen: Er baut Igeltunnel, kümmert sich um Nisthilfen für Vögel, zieht seltene heimische Wildpflanzen an und pflanzt sie aus.

Einen großen Teil seiner Zeit nimmt auch die Koordination der vielen ehrenamtlichen Helfer*innen in Anspruch, ohne die das alles nicht möglich wäre. So helfen etwa Schüler*innen der Mühlenau-Grundschule bei der Pflege des „Blühenden Dreiecks“ auf dem August-von-Wassermann-Platz in Dahlem, Studierende und Beschäftigte der Freien Universität treffen sich regelmäßig, um mit Leon von Salisch den Campus artenfreundlich umzugestalten und neue Biotope anzulegen.

Leon von Salisch ist einmal pro Woche als Natur-Ranger auf dem Campus unterwegs.

Leon von Salisch ist einmal pro Woche als Natur-Ranger auf dem Campus unterwegs.
Bildquelle: Marion Kuka

Sein Vertrag über einen Arbeitstag pro Woche gehört zum Projekt „Living Lab Multispecies Campus“, das von der Stadtökologin Professorin Tanja Straka und dem Bibliotheksbeschäftigten Jonas Schramm geleitet wird. Von der Stabsstelle für Nachhaltigkeit und Energie der Freien Universität hat das Living Lab 60.000 Euro für ein anderthalb Jahre laufendes Projekt eingeworben.

Auch Sophia Kimmig, Florian Ruland, Janet Wagner, Luiza Olos, Jan Keller, Sophie Lokatis, Rebecca Rongstock und die neuen Mitglieder Zeno Porro und Clara Schwedler, die alle mit anderen Aufgaben an der Freien Universität tätig sind, engagieren sich im Living Lab, das an die Initiative „Blühender Campus“ anknüpft.

Ihr Ziel: einen Campus zu schaffen, der nichtmenschliche Lebewesen aktiv berücksichtigt und eine positive Mensch-Natur-Beziehung fördert. Dazu wollen sie 1) Biodiversität erfassen und fördern, 2) die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Biodiversität verbessern und 3) den Zusammenhang zwischen Biodiversität, mentaler Gesundheit und Wohlbefinden erforschen.

Zwischenbilanz im lebenden Labor

Auf einem Workshop zog das Team eine Zwischenbilanz, die sich sehen lassen kann. „Für unser Anzuchtprogramm haben wir Erde organisiert und 150 Pflanzen in Töpfen angezogen“, berichtet Leon von Salisch. Das Saatgut stammte anfangs von Mitstreiter*innen aus dem Projekt „Urbanität und Vielfalt“, jetzt arbeitet er auch mit der Dahlemer Saatgutbank am Botanischen Garten zusammen.

„Inzwischen haben wir 100 Sträucher gepflanzt, darunter 50 Rosmarinweiden aus dem Botanischen Garten Berlin, eine hier bedrohte Art.“ Solche gebietsheimischen Gehölze fehlten bisher auf dem Campus, sind jedoch wichtig, um den für Vielfalt notwendigen Strukturreichtum zu schaffen. Die Blühflächen des Blühenden Campus reichen allein nicht aus, um vielen verschiedenen Arten gute Lebensbedingungen zu bieten.

Liegendes Totholz - wie hier vor dem Weiterbildungszentrum - wird von Organismen, insbesondere von Holz abbauenden Pilzen und von Insekten, über Jahre hinweg zersetzt.

Liegendes Totholz - wie hier vor dem Weiterbildungszentrum - wird von Organismen, insbesondere von Holz abbauenden Pilzen und von Insekten, über Jahre hinweg zersetzt.
Bildquelle: Marion Kuka

So hat Leon von Salisch im Garten des Weiterbildungszentrums in der Otto-von-Simson-Straße gemeinsam mit den dortigen Beschäftigten die Blühflächen mit Totholzstrukturen ergänzt und einen Teich in der Größe einer Pfütze angelegt. Mit diesem zeitweise austrocknendem Mini-Gewässer will er Binsenjungfern fördern, eine in Berlin bedrohte Libellengattung. Gemeinsam mit der Technischen Abteilung der Freien Universität und Naturschutzbehörden werden in nächster Zeit weitere Turmfalkennistkästen installiert.

Auf seinen Streifzügen sammelt der Campus-Ranger auch Daten, um die vorhandenen Arten zu erfassen und ihre Verbreitung im Laufe der Zeit zu dokumentieren – eine unerlässliche Grundlage, um Erfolge wie das Auftauchen neuer Arten oder die Zunahme der Individuenzahlen überhaupt nachweisen zu können.

Rebecca Rongstock, Projektmanagerin für Biodiversität in der Stabsstelle Nachhaltigkeit und Energie der Freien Universität und Koordinatorin der Initiative Blühender Campus, berichtet, dass immer noch große Datenlücken bestehen: „Aber das ist ganz normal“, fügt sie hinzu. „Seit 2020 erfassen wir systematisch die Tagfalter auf unseren Flächen, doch wirklich belastbare Aussagen können wir erst nach einem Jahrzehnt treffen, da sich die Populationen nur allmählich entwickeln und starken Schwankungen unterliegen.“

Biotoptypen-Kartierung für den Campus

Um Datenlücken zu schließen, haben ehrenamtliche Helfer*innen im Sommer viele Stunden damit verbracht, Pflanzen auf Flächen der Universität zu kartieren. „Diese Informationen haben wir mit Abschlussarbeiten von Studierenden zusammengeführt. Ein Kartierungsbüro erstellt daraus eine sogenannte Biotoptypen-Kartierung, die typische Lebensräume für Tiere, Pflanzen und Pilze auf dem Campus ausweist“, erklärt Rebecca Rongstock.

Alle Daten gehen anschließend an das Studio für Animal Aided Design, das Konzepte entwickelt, um den Lebensraum von Wildtieren in Architektur und Landschaftsplanung zu integrieren. Das Studio arbeitet mit sogenannten Zielarten, die als „Botschafter“ für spezifische Lebensräume fungieren – etwa Libellen, die für Gewässer stehen. Das abstrakte Ziel – Steigerung der Biodiversität – wird dadurch greifbarer. Das Studio stellt eine Liste geeigneter Zielarten zusammen, die finale Auswahl treffen die Mitglieder des Living Lab jedoch gemeinsam mit Nachbarn und Mitgliedern der Universität in einem Workshop am 17. März.

„Bisher haben wir uns darauf konzentriert, ob unsere Zielarten eine ökologische Nische repräsentieren oder akut bedroht sind“, sagt Rebecca Rongstock. „Im Workshop wollen wir herausfinden, welche Tiere und Pflanzen echte Anhänger haben und welche möglicherweise unerwünscht sind, wie etwa Wespen oder Wildschweine. Danach können wir einen detaillierten Plan vorlegen, wie der Campus in Hinblick auf die Lebensraumansprüche der Zielarten gestaltet werden sollte – unser Fahrplan für maximale Biodiversität.“

Manchmal sei eine Entscheidung unumgänglich, ergänzt Tanja Straka, die selbst Fledermausexpertin ist: „In einen Kirchturm, in dem Turmfalken nisten, wird keine Fledermaus einziehen.“ Der Workshop soll zeigen, welche Vorlieben es gibt und wie Kompromisse aussehen können.

Citizen Science mit Studierenden und Beschäftigten

Für Beschäftigte der Freien Universität will das Team in Zusammenarbeit mit dem Weiterbildungszentrum Seminare anbieten: Es soll darum gehen, mit neuem Blick auf Gebäude und Grünflächen zu schauen, um diese auch für Tiere und Pflanzen als Lebensraum zu erschließen.

Auch Citizen Science-Projekte sollen Studierende und Mitarbeitende aktivieren: Mit Smartphone-Apps wie iNaturalist kann jede*r Tiere und Pflanzen auf dem Campus erfassen, hochladen und so wertvolle Daten sammeln. Im „Erkundungsmodus“ der App lässt sich nachschlagen, wo bereits interessante Bäume, Kräuter, Gräser oder Insekten von anderen entdeckt wurden. „Aktuell sind auf unseren Flächen 1163 verschiedene Arten verzeichnet“, ergänzt Leon von Salisch.

Die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Biodiversität sind das zentrale Anliegen von Janet Wagner, Florian Ruland, Jonas Schramm und Sophia Kimmich. Dafür nutzen sie vor allem Kunst. Bereits der Start des Living Lab wurde durch eine Kunstaktion markiert – ein Fensterbild gegen Vogelschlag mit Wildbienen-Motiven, gestaltet von Lea Ebeling, das die Mensa FU II ziert.

Für eine groß angelegte Ausstellung mit begleitenden Aktionen im Sommer 2025 hat das Team Künstler*innen eingeladen, ihre Vorschläge einzureichen und sich um mehrere kleine Stipendien zu bewerben.

Kino für Krähen und Menschen

Persönlich interessiert sich Janet Wagner besonders für Nebelkrähen. Auch deshalb möchte sie eine Vorführung des „Crow Cinema“ von Lilli Kuschel auf dem Campus organisieren. Diese Künstlerin produziert Filme mit und für Krähen, die sowohl für Menschen als auch für die Vögel unter freiem Himmel gezeigt werden. Dabei stellt sie die spannende Frage, was die Tiere wohl empfinden, wenn sie ihre gefilmten Artgenossen sehen. „Wir haben viele Nebelkrähen auf dem Campus, weil wir keine flächendeckende Lösung mit wildtiersicheren Mülleimern haben“, erklärt Janet Wagner.

Mit dem Crow Cinema möchte sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass Verpackungsreste oft in den Mägen der Tiere landen, da diese im Müll nach Nahrung suchen.

Jan Keller untersucht, ob Naturerfahrung rund um den Campus einen Einfluss auf das Wohlbefinden von Studierenden und Beschäftigen hat.

Jan Keller untersucht, ob Naturerfahrung rund um den Campus einen Einfluss auf das Wohlbefinden von Studierenden und Beschäftigen hat.
Bildquelle: Marion Kuka

Wie sich Biodiversität auf die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden von Studierenden und Beschäftigten auswirkt, erforschen Jan Keller, Luiza Olos und Tanja Straka in einer eigenen Studie. Die zugrunde liegende Hypothese: Der Kontakt mit Biodiversität – insbesondere mit Stadtwildtieren – hilft Menschen dabei, Fähigkeiten und Ressourcen zu entwickeln, um beispielsweise besser mit Stress umzugehen.

Ob und wie dies bei einer Person funktioniert, wird zudem von Normvorstellungen, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad beeinflusst. „Die Winterstudie läuft bereits mit rund 100 freiwilligen Teilnehmer*innen“, berichtet Jan Keller, Postdoc im Arbeitsbereich Gesundheitspsychologie der Freien Universität.

Erlebnisse mit Wildtieren dokumentieren

Nach einer ausführlichen Eingangsbefragung dokumentieren die Proband*innen über einen Zeitraum von zwei Wochen täglich ihre Erlebnisse mit Wildtieren. Sie berichten von Aktivitäten wie Beobachten, Zuhören, Füttern und Fotografieren und notieren auch ihre Emotionen bei diesen Begegnungen. „Zusätzlich erheben wir Daten zu Gesundheit und Wohlbefinden“, erklärt Jan Keller. Zwei der Gruppen nehmen nach der Hälfte der Zeit an unterschiedlichen Achtsamkeitsübungen in der Natur rund um den Campus teil, während eine Kontrollgruppe ohne Anleitung spazieren geht.

„Wir sind sehr gespannt, ob sich ein Effekt nachweisen lässt“, sagt der Psychologe. Da die Ergebnisse auch von den Jahreszeiten beeinflusst werden könnten, wird die Befragung im Frühjahr, Sommer und Herbst mit neuen Teilnehmenden wiederholt.

Rebecca Rongstock inspiziert eine Blühfläche: Auf insgesamt etwa zehn Hektar sind teils sehr unterschiedliche, artenreiche Blühflächen entstanden. Hier wird 1-2 Mal im Jahr mit einem insektenfreundlichem Balkenmäher gemäht.

Rebecca Rongstock inspiziert eine Blühfläche: Auf insgesamt etwa zehn Hektar sind teils sehr unterschiedliche, artenreiche Blühflächen entstanden. Hier wird 1-2 Mal im Jahr mit einem insektenfreundlichem Balkenmäher gemäht.
Bildquelle: Marion Kuka

„Was als rein ehrenamtliche Initiative begann, hat durch das Living Lab und das Biodiversitätsjahr mehr Struktur, Qualität und Professionalität gewonnen“, sagt Rebecca Rongstock. Um diesen Weg und die fruchtbare Vernetzung von Forschung und Praxis fortzusetzen, wird sie sich auch um Drittmittel von Fördermittelgebern außerhalb der Freien Universität bemühen.

Vielleicht gelingt es damit, den Natur-Ranger Leon von Salisch dauerhaft zu beschäftigen, damit er Gräser und Gehölze, Libellen, Igel, Falken und Wildbienen auf dem Campus weiter im Blick behalten kann.

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