Diagnose: Jerusalem-Syndrom
Julian Jestadt schickt Post aus Israel: Er beobachtet und reflektiert die Religiosität in der Jerusalemer Altstadt
07.02.2020
Etwa 100 Touristen werden jedes Jahr in israelische Psychiatrien eingewiesen. Die Diagnose: Jerusalem-Syndrom. Es handelt sich um eine akute psychotische Phase, die sich aus religiösen Gefühlen und Wahnvorstellungen speist. Betroffene glauben, eine Figur aus der Bibel zu sein – Jesus, König David, Maria oder Gott höchstpersönlich.
Das ist nicht verwunderlich. Nicht nur der israelisch-palästinensische Konflikt liegt in Jerusalem über allem, sondern auch die damit verbundene tiefe Religiosität. Selbst einen völlig säkularen Besucher wie mich lässt das nicht kalt. Ich halte mich allerdings nicht für den Messias, sondern leide eher unter einer säkularen Variante des Syndroms: eine leichte, aber konstante Anspannung, die sich zwischen euphorischem Interesse und absolutem Unverständnis bewegt.
In der Altstadt von Jerusalem drängen sich auf nur einem Quadratkilometer die heiligen Stätten von Christen, Muslimen und Juden: die Grabeskirche und die Via Dolorosa, der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee sowie die Klagemauer. An jeder Ecke findet man Kirchen, Moscheen und Synagogen, kaum eine Ausgrabung hat keine religiöse Bedeutung.
Während der Muezzin zum Gebet ruft, begegne ich in den schmalen und hoffnungslos überfüllten Gassen der Altstadt Reisegruppen, die singend und weinend ein Kreuz tragen. Durch ihre Reihen quetschen sich eilig orthodoxe Juden, um zur Klagemauer zu gelangen. Ein Mann mit Tränen in den Augen blickt mich an, als wäre ich Jesus. Ich höre die Reiseleiter euphorisch rufen: „Hier ist Jesus zum zweiten Mal gefallen!“ Und obwohl alle Fotos machen, weiß ich nicht so recht, wovon.
In diesem religiösen Gewusel überlege ich mir – berechtigt oder nicht – zweimal, wo ich ein Foto mache oder mir eine Zigarette anzünde. Ich komme kaum hinterher, alles nachzulesen, was ich gesehen oder gehört habe. Ich bewundere die Pilger, die ihre Mitbringsel über den Salbungsstein in der Grabeskirche reiben und minuten-, wenn nicht gar stundenlang beten. Im nächsten Moment kommt mir das Ganze sehr absurd vor.
Es heißt, so schnell das Jerusalem-Syndrom kommt, so schnell verschwindet es auch wieder, wenn man Jerusalem verlässt. Auch ich merke, wenn ich in das liberale Tel Aviv fahre, wie die leichte, aber konstante Anspannung von mir abfällt. In der 70 Kilometer entfernten Stadt ist man in einer anderen Welt – jung, tolerant, feierwütig und sexualisiert. Hier fühle ich mich wie erlöst.
Weitere Informationen
Julian Jestadt schickt ein Semester lang „Post aus…Jerusalem“! Er ist einer von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten, ihre Artikel finden Sie hier.
Hier lesen Sie Julian Jestadts erste Post (auch auf Englisch) sowie seine zweite Post (ebenfalls auch englischsprachig verfügbar).