Entscheidend ist, welche Geschichte ein Text erzählt und wie er das tut
Der malaysisch-britische Schriftsteller Tash Aw sprach in seiner Antrittsvorlesung als Samuel Fischer-Gastprofessor über Authentizität, Sprache und Erwartungshorizonte
15.12.2025
Die Samuel Fischer-Gastprofessur der Freien Universität bringt seit vielen Jahren internationale literarische Stimmen nach Berlin und öffnet den Blick für Erzählweisen, die vertraute Perspektiven erweitern. Am 28. Oktober 2025 hielt der malaysisch-britische Schriftsteller Tash Aw seine öffentliche Antrittsvorlesung am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Sein Vortrag in englischer Sprache trug den Titel „Authenticity and the Death of Literature“.
Begrüßt wurde er von den Literaturwissenschaftlern Professor Michael Auer und David Wachter. Aw ist der 53. Samuel Fischer-Gastprofessor, der an der Freien Universität unterrichtet. Mit ihm hat das Peter Szondi-Institut einen Autor eingeladen, dessen Werk sich zwischen Südostasien, Großbritannien und globalen Migrationsräumen bewegt. Seine Antrittsvorlesung widmet sich einem Begriff, der ihn und viele andere Autorinnen und Autoren seit Langem begleitet: Authentizität.
Bereits in der Einführung wird deutlich, wie stark Tash Aws Romane sich mit komplexen Familiengeschichten, kolonialen Verflechtungen und sozialen Spannungen auseinandersetzen. Von seinem vielfach ausgezeichneten Debüt The Harmony Silk Factory bis zu seinem aktuellen Romanprojekt durchzieht sein Werk der Versuch, Identität nicht als feste Kategorie zu verstehen, sondern als etwas Bewegliches, häufig auch Bruchstückhaftes. Diese literarische Perspektive führt unmittelbar zum Thema des Abends.
„Warum schreiben Sie in Englisch?“
Tash Aw beginnt mit einer Szene, die ihm allzu vertraut ist: Auf einem Literaturfestival wird er gefragt, warum er in Englisch schreibt und nicht in seiner „eigentlichen“ Sprache. Für ihn ist diese Frage alles andere als harmlos. Sie transportiert die Erwartung, kulturelle Identität müsse klar erkennbar, am besten eindeutig markierbar sein, damit ein Text als glaubwürdig gelten könne.
Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Geschriebenen zur Person. Aus einer Frage nach Sprache wird eine Frage nach Zugehörigkeit. Für Aw ist dies ein Erbe kolonialer Denkmuster. Authentizität fungiert hier weniger als literarisches Kriterium denn als Maßstab, der Autorinnen und Autoren auf bestimmte Positionen festzulegen versucht.
Authentizität als Ausschlussmechanismus
Besonders anschaulich wird dies in einer Episode aus Aws persönlichem Umfeld. Als Freund*innen aus Europa ihn in Kuala Lumpur besuchen, suchen sie nach dem „eigentlichen“ Malaysia und empfinden die moderne Metropole als „zu westlich“. Aw fährt mit ihnen in das Dorf seiner Familie. Was für die Gäste „ursprünglich“ wirkt, erscheint ihm selbst als Ausdruck struktureller Armut, ausbleibender Investitionen und begrenzter Zukunftschancen.
Der Kontrast macht für Tash Aw sichtbar, wie projektiv der Blick auf kulturelle Echtheit sein kann. Das Etikett des Authentischen sage häufig mehr über die Erwartungen der Betrachtenden aus als über die Realität des Betrachteten, so Aw. Er betont zugleich, dass solche Vorstellungen nicht nur von außen kommen. Kulturelle Erwartungen, etwa bestimmte Vorstellungen davon, wie eine „malaysische Stimme“ zu klingen habe, wirken sowohl in die Fremd- als auch in die Selbstwahrnehmung hinein und prägen, wie Autorinnen und Autoren gelesen werden.
Aw richtet seinen Blick anschließend auf die Rezeption südostasiatischer Literatur. In vielen europäischen Buchhandlungen, berichtet er, teilt sich die Literatur ganzer Regionen ein einziges Regalbrett. Besonders Autorinnen und Autoren der Diaspora fehlten häufig komplett. Ihre Perspektiven gelten teilweise als „nicht authentisch genug“.
Diese Logik, so Aw, formt einen Literaturbetrieb, der kulturelle Eindeutigkeit bevorzugt. Komplexere Konstellationen wie Migration, Mehrsprachigkeit und transnationale Biografien gerieten dabei schnell an den Rand. Tash Aw beschreibt dies als strukturelles Problem eines Marktes, der Vielfalt zwar fordert, aber nur selektiv sichtbar macht.
„Death of Literature“?
In der anschließenden Diskussion rückt der Titel seiner Vorlesung in den Mittelpunkt: „Death of Literature“. Meint Aw damit tatsächlich ein Ende der Literatur?
Er widerspricht. Stattdessen spricht er über die Bedingungen, unter denen heute geschrieben wird: digitale Konkurrenz, verkürzte Aufmerksamkeitsspannen, ökonomischer Druck und die Nachfrage nach Wiedererkennbarkeit. Ein erfolgreiches Buch könne leicht zum Modell werden, das sich reproduzieren soll. Für riskante oder experimentelle Formen werde der Raum dann enger. Der „Tod“ der Literatur liegt für Tash Aw daher weniger im Verschwinden des Lesens als in einer Verengung dessen, was sichtbar bleiben darf. Texte, die sich nicht in vertraute Kategorien fügen, geraten leichter aus dem Blick.
Am Ende macht Aw deutlich, wie stark Vorstellungen von Herkunft, Sprache und „Echtheit“ unser Bild von Literatur prägen, oft stärker als uns bewusst ist. Sein Appell richtet sich weniger an Autorinnen und Autoren als an alle, die lesen und über Literatur sprechen. Entscheidend ist nicht, ob ein Text „authentisch“ wirkt, sondern welche Geschichte er erzählt und wie er das tut. Für Aw ist Authentizität keine literarische Qualität, sondern eine Erwartung an Menschen und genau deshalb kritisch zu hinterfragen.
Weitere Informationen
Mehr Informationen zur Samuel Fischer-Gastprofessur: https://sfischerprof.de/
Zur Pressemitteilung: https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2025/fup_25_162-samuel-fischer-gastprofessur-tash-aw/index.html
Zum Peter Szondi-Institut: https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/index.html


