Wie steht es um die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen? Einblicke aus einer repräsentativen Umfrage
Beitrag von Julian Hamann, Professor für Hochschulforschung, Humboldt-Universität zu Berlin
16.10.2025
Ist die Freiheit von Forschung und Lehre in Deutschland eingeschränkt? Was sind überhaupt Einschränkungen, sind sie systematisch und wodurch sind sie motiviert? Die Debatte über diese Fragen ist polarisiert und wird oft hitzig geführt. Die Leidenschaft ist nachvollziehbar, weil Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut ist. Gerade deshalb profitiert der öffentliche Diskurs, der in der Vergangenheit stark von Einzelfällen und Diskussionen im US-Kontext geprägt war, von einer Versachlichung.
Um die Debatte empirisch zu fundieren, haben Gregor Fabian (DZHW, Berlin), Mirjam Fischer (Humboldt-Universität zu Berlin und Goethe-Universität Frankfurt/Main), Uwe Schimank (Universität Bremen), Christiane Thompson (Goethe-Universität Frankfurt/Main), Richard Traunmüller (Universität Mannheim), Paula-Irene Villa (Ludwig-Maximilians-Universität München) und ich 2024 eine Studie durchgeführt, die von der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS ermöglicht wurde.
Befragte urteilen mehrheitlich positiv
Es handelt sich um die erste repräsentative Befragung zur Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen. Befragt wurden rund 9.000 Wissenschaftler*innen über alle Statusgruppen hinweg. Die Befragung ermöglicht nuancierte Einblicke: Insgesamt beurteilen etwa vier von fünf Befragten (79%) die Autonomie und Forschungsfreiheit des deutschen Wissenschaftssystems als eher gut oder sehr gut. 80% der Befragten fühlen sich (eher) frei bei der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse, 92% bei der Auswahl ihrer Lehrmaterialien. Das Bild einer flächendeckenden „Cancel Culture“ bestätigen die Daten damit nicht unbedingt.
Gleichzeitig zeigt unsere Studie: Wissenschaftler*innen spüren durchaus auch Einschränkungen. 14% der Befragten geben an, aus Angst vor negativen Folgen ein Forschungsthema vermieden zu haben. Rund 5% berichten von Erfahrungen mit moralischer Abwertung und beruflichen Problemen in Forschung und Lehre. Auch wenn der prozentuale Anteil klein wirkt, bezogen auf die Grundgesamtheit würde dies bedeuten, dass mehrere Tausend Wissenschaftler*innen betroffen sind. Die Antwort auf die Frage, wie es um die Wissenschaftsfreiheit steht, muss also differenziert ausfallen – und sie muss klären, wo scharfe, aber legitime Kritik endet und illegitime Einschränkung beginnt und wo der Übergang von Einzelfällen zu einem strukturellen Phänomen liegt.
Unterschiede bei Themen und Beschäftigungsgruppen
Die Komplexität steigt weiter, wenn man bei der Frage nach der Wissenschaftsfreiheit nach Statusgruppen und Fächern differenziert. Unsere Studie zeigt, dass Professor*innen die Lage tendenziell positiver sehen als befristet beschäftigte wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen. Dieser Befund verweist auf einen Zusammenhang zwischen Wissenschaftsfreiheit und unsicheren Beschäftigungsbedingungen. Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit werden außerdem häufiger in den Geistes- und Sozialwissenschaften berichtet, treten aber insgesamt fachübergreifend auf. Das liegt daran, dass zu den umstrittenen Themen keineswegs nur geschlechtergerechte Sprache gehört, auch wenn der öffentliche Diskurs dies nahelegt. Auf die Frage hin, welche Themen an der Hochschule erlaubt sein sollten, provozieren in unserer Befragung auch die Rüstungsforschung, Tierversuche oder das Klonen menschlicher Embryonen starke Meinungsunterschiede. Das zeigt: Forschung ist nicht nur in den Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern auch in den Lebens- und Ingenieurwissenschaften politisiert.
Um abschließend zur Eingangsbeobachtung zurückzukehren: Neben differenzierteren Einblicken zum Stand der Wissenschaftsfreiheit selbst, ermöglicht unsere Studie auch eine Einschätzung zu den Folgen der Diskussionskultur über sie. Die Daten zeigen eine Diskrepanz zwischen der Zahl gemachter Erfahrungen und dem deutlich größeren Ausmaß erwarteter Einschränkungen. Die emotional aufgeladene und polemische Rhetorik in der Debatte über Wissenschaftsfreiheit und „Cancel Culture“ kann selbst Erwartungen von Einschränkungen verstärken und Verhaltensanpassungen auslösen. Eine empirisch fundierte Versachlichung der Debatte ist allein deshalb notwendig, um dieser diskursiven Dynamik entgegenzuwirken.