Viel (Selbst-)Zensur – wenig Daten
Konfliktforscher Jannis Grimm, Freie Universität
04.04.2025
Jannis Julien Grimm ist Leiter der Forschungsgruppe „Radical Spaces“ an der Freien Universität und Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).
Bildquelle: Anne-Sophie Schmidt
In den USA hatte der Gaza-Krieg auch für Hochschulen Folgen: Nach aktuellen Studien fühlen sich mehr als 80 Prozent der Nahost-Forschenden gezwungen, ihre Aussagen zu zensieren. Gleichzeitig instrumentalisiert die Trump-Regierung den Kampf gegen Antisemitismus auf dem Campus, um unliebsame Forscher*innen auszuweisen und ganze Universitäten unter Beobachtung zu stellen. Deutsche Spitzenpolitiker*innen erwägen vor diesem Hintergrund, amerikanische Wissenschaftler*innen anzuwerben, die unter Zensur leiden. Dabei gilt Deutschland ironischerweise selbst längst als Land, in dem das Sprechen über Israel und Palästina mit Karriererisiken verbunden ist und wo die palästinasolidarischen Proteste zum Einfallstor für die Beschneidung von Hochschulautonomie geworden sind. Der dramatische Absturz Deutschlands im Academic Freedom Index macht den Effekt von #Fördergate, Hunderter Veranstaltungsabsagen und der Strafverfolgung von Studierenden wegen Demonstrationen auf dem Campus deutlich. Abseits dieses statistischen Rankings existiert aber kaum verlässliches Datenmaterial zur Lage der Forschenden. Explorative Interviews deuten zwar darauf hin, dass Selbstzensur sowohl israelkritische Forschende betrifft als auch jene, die eher als proisraelisch gelten. Beide Gruppen berichten in einem neuen Ausmaß von öffentlicher Diffamierung und Einschüchterung. Doch mangelt es weiter an empirisch belastbaren Daten.
Genau diese Lücke adressiert eine laufende Studie des INTERACT-Zentrums, die Ausmaß und Ursachen von (Selbst-)Zensur im Kontext des Nahostkonflikts systematisch untersuchen will. Drei Dimensionen stehen dabei im Vordergrund: 1) individuelle Erfahrungen von Zensur, Hassrede und institutionellen Konsequenzen, 2) die Bewertung öffentlicher Debatten zu Entwicklungen auf dem Campus und 3) wie biografische und identitätsbezogene Faktoren die individuelle Bedrohungswahrnehmung prägen. Ziel ist, ein differenziertes Lagebild der deutschen Nahostwissenschaft seit dem 7. Oktober jenseits anekdotischer Evidenz zu zeichnen – auch um dem Missbrauch von „Wissenschaftsfreiheit“ als Kampfbegriff zu begegnen. Denn die Debatte um Wissenschaftsfreiheit birgt aktuell die Gefahr einer doppelten Instrumentalisierung: Einerseits soll der Vorwurf mangelnder Wissenschaftsfreiheit bisweilen auch legitime Kritik an der Positionierung von Forschenden pauschal abblocken. Andererseits legitimiert der gut gemeinte, aber schlecht gemachte Schutz von Hochschulen aber vor allem autoritäre Maßnahmen, die kritische wissenschaftliche Diskurse ersticken. Gerade Deutschland trägt eine besondere historische Verantwortung, dieser Instrumentalisierung aktiv entgegenzuwirken. Hochschulen sind schon immer Frühwarnsysteme für breitere autoritäre Tendenzen gewesen. Dass Wissenschaftler*innen zu bestimmten Themen die Schere im Kopf anlegen, sollten wir als ernste Warnung verstehen.