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Was ist Wahrheit? Die Freiheit der Wissenschaft in einer liberalen Demokratie

Beitrag von Georg Essen, Professor für Systematische Theologie, Humboldt-Universität

07.11.2025

Georg Essen ist Professor für Systematische Theologie am Zentralinstitut für Katholische The-ologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

Georg Essen ist Professor für Systematische Theologie am Zentralinstitut für Katholische The-ologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bildquelle: privat

In der Demokratie braucht es einen gemeinsamen Realitätsbezug – aber der Staat steht als Instanz für den Wahrheitsbesitz nicht zur Verfügung. Es braucht Grundrechte, insbesondere die Wissenschaftsfreiheit, um die Suche nach Wahrheit und ihren Schutz zu gewährleisten.

1. Was ist Wahrheit?

Die Szene, die im 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums geschildert wird, gehört, folgen wir dem Staatsrechtler Hans Kelsen, zu dem Großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat. Jesus steht, weil er des politischen Aufruhrs beschuldigt wird, als Angeklagter vor Pontius Pilatus, dem römischen Statthalter in Jerusalem. Auf die Aussage des Beschuldigten, er sei als König in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen, reagiert Pilatus mit jener Gegenfrage, die, nach ihm benannt, zum geflügelten Wort wurde: „Was ist Wahrheit?“ Die Pointe der Geschichte aber ist die, dass er sich an das Volk wendet und eine Abstimmung veranstaltet, die für Jesus bekanntlich ungünstig ausfällt, weil die Mehrheit die Freilassung des Barabbas fordert, von dem es heißt, er sei ein Räuber. Die gesamte Inszenierung ist, mit anderen Worten, ein Lehrstück über den Populismus. Auch wenn man rasch ein Einverständnis darüber erzielen dürfte, dass man über die Wahrheit nicht abstimmen kann, bleibt die Frage von Bedeutung, was dies für die Demokratie und ihr Interesse an der Wahrheit bedeutet.

Doch ist das Interesse an der Wahrheit überhaupt identisch mit der Pilatus-Frage? Diese ist ja bereits entweder das Resultat einer skeptischen Haltung oder aber, wie es scheint, der Ausdruck von Feigheit vor der Entscheidungsfindung, am Ende gar nur eine Floskel im zynischen Spiel um die Macht. Wie dem auch sei! Die Frage, was die Wahrheit ist, wird immer dann gestellt, wenn das Verständnis von Wahrheit schon zum Problem geworden ist. Welchen Sinn verbinden wir mit der Wahrheit und welches Interesse haben wir an ihr? Warum, mit anderen Worten, soll überhaupt Wahrheit sein? Die ursprüngliche Frage nach der Wahrheit entspringt zunächst einmal sehr elementaren und existenziellen Nöten, weil wir ein höchstes Interesse an einer Antwort auf die Frage haben, was wir verlässlich über uns selbst und die Welt wissen können. Eine erste Antwort lautet folglich: Wer nach der Wahrheit fragt, ist daran interessiert, sich realitätsgerecht zu verhalten, um sich in der Wirklichkeit seines Lebens orientieren zu können. Infrage steht somit die Wirkung des Wahrheitsgeschehens: Wahr ist, was für uns verlässlich bekannt und deshalb vertraut ist.

Wahr aber kann nur sein, was deshalb verlässlich ist, weil es gilt! Für den, der die Frage des Pilatus stellt, sind Verlässlichkeit und Gültigkeit auseinandergetreten. Also werden Fragen nach der Gültigkeit dessen, was für uns verlässlich sein soll, zum zentralen Ort im Streit um die Wahrheit. Denn es ist ja klar, dass nur der Erweis der Gültigkeit der Wahrheit deren Verlässlichkeit verbürgen kann. Nur dann sind wir bereit, uns auf etwas zu verlassen, eben weil es gilt. Was wahr ist, entscheidet sich wiederum anhand der Gründe, mit denen wir unsere Erkenntnis über die Wahrheit rechtfertigen können.

Das Interesse an der Wahrheit dient folglich einer grundlegenden Orientierung am Wert der Erkenntnis: Wissen ist besser als Nichtwissen. Aber warum soll überhaupt Wissen sein und warum suchen wir nach Erkenntnis? Die Antwort kann nur lauten, dass wir ein Interesse an der freimachenden Wirkung des Wissens haben. Anders gewendet: Wahrheit soll um der Freiheit willen sein! Ein selbstbestimmtes Leben können wir nur führen, wenn wir in der Lage sind, uns in der Wirklichkeit orientieren zu können. Dazu aber benötigen wir die Gewissheit, dass uns die Erkenntnis nicht trügt. Denn erst das Wissen schafft einen Bezug zur Realität, so dass sie für uns konkret und überprüfbar wird. Gültiges Wissen ist die Voraussetzung für eine wahre Welt- und Lebensorientierung. Mit anderen Worten: Wahrheit begründet die Verlässlichkeit unserer Orientierung in der Welt. Weil Wahrheit der Freiheit dienen soll, nehmen wir das Wissen in den Dienst von Aufklärung und Emanzipation.

2. Wahrheit in der liberalen Demokratie

Vor diesem Hintergrund ist auch ein erster Hinweis möglich, welche Bedeutung Wahrheit für die liberale Demokratie hat. Sie ist ja, kurzgefasst, eine Ordnung der Freiheit, die Räume schaffen will für verschiedene Weltanschauungen und plurale Interessen. Auch verspricht sie, dass Menschen nicht fremdbestimmt ihr Leben fristen müssen, sondern durch politische Teilhabe ihre Lebensbedingungen mitgestalten können. Das aber verlangt von allen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie sich – um ihrer gleichen Freiheit willen – darüber verständigen, in welcher Welt sie gemeinsam leben wollen. Die Demokratie braucht einen gemeinsamen Realitätsbezug, der uns Auskunft gibt über die natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben und die es zu gestalten gilt. Es geht hier selbstredend nicht um gleichgeschaltete Meinun-gen, wohl aber um geteilte Grundannahmen darüber, was als Fakt gilt, welche Quellen vertrauenswürdig sind und wie Evidenzen bewertet werden. Gerade wenn die Grundlagen dessen, was als „real“ gilt, umstritten sind, sind demokratische Entscheidungsfindungen darauf angewiesen, in Prozessen von Beratung und Entscheidung auf die Kraft von Argumenten und die Bereitschaft zur Abwägung zu vertrauen. Weil die Verlässlichkeit unseres Wissens über die Wirklichkeit ein sowohl individuelles wie gemeinsames Gut darstellt, gestalten Demokratien derartige Verständigungsprozesse so, dass die freie Einstimmung in die Wissensbestände der Gesellschaft ermöglicht werden soll.

Da jedoch die Demokratie vom Diskurs unterschiedlicher Überzeugungen lebt, würde eine staatliche Festschreibung von „Wahrheit“ den demokratischen Meinungskampf ersticken. Folglich darf der Staat nicht als Wahrheitsinstanz auftreten und dekretieren, was wahr ist. Die Verfassungsordnung einer liberalen Demokratie begründet keine Wahrheits-, sondern eine Freiheitsordnung. Der Staat muss sich – um der Freiheit willen – darauf beschränken, die gesellschaftlichen Kommunikationsräume zu schützen, in denen der Streit um die Wahrheit ausgetragen wird. Wesentlich ist jedoch, dass der Staat die Freiheit der Wahrheitssuche schützt, ohne bestimmte Wahrheitsansprüche mit der Geltungskraft des Rechts durchsetzen zu können. Das Grundgesetz fasst in Art. 5 GG deshalb jene Grundrechte zusammen, mit denen die Suche nach der Wahrheit ermöglicht und geschützt werden soll: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Informationsfreiheit – und Wissenschaftsfreiheit.

3. Die Freiheit der Wissenschaft und ihr Bemühen um Wahrheit als Interesse einer liberalen Demokratie

Wenn über dem Eingangsportal der Freiburger Universität in goldenen Lettern als Wahlspruch ein Satz aus dem 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums prangt, dann ist mit ihm eine Geltung verbunden, die primär eine nichtreligiöse Bedeutung hat: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ Auch wenn ein solches Pathos für heutige Ohren altmodisch klingt, gehört die Suche und das Streben nach Wahrheit zu den essenziellen Aufgaben einer Universität. Dies hat damit zu tun, dass in modernen Gesellschaften die für sie relevante Welterschließung in wissenschaftsförmiger Weise geschehen soll. Diese Einsicht lässt sich durchaus ableiten aus den eingangs angestellten Überlegungen zu dem Grundverständnis von Wahrheit in seiner Dialektik von Verlässlichkeit und Gültigkeit unserer Wirklichkeitserkenntnis. Die primär an Universitäten betriebene Wissenschaft übernimmt die Funktion einer gesellschaftlich anerkannten Instanz der Wirklichkeitsinterpretation, weil sie methodisch kontrollierte und intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse liefert. Damit entspricht sie den Forderungen nach rationaler Begründbarkeit und überprüfbarer Erkenntnis, wie sie für das gesellschaftlich geteilte wahre Wissen elementar sind. So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht, das in seinen Ausführungen zur Freiheit der Wissenschaft diese als das „nach Inhalt und Form ernsthafte und planmäßige Bemühen um Wahrheit“ definiert (BVerfGE 35, 79 [113]).

So gesehen schützt das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit die Universität als Ort der Wahrheitssuche und sichert diese Unabhängigkeit institutionell ab. Eine solche Autonomie ist für die liberale Demokratie von elementarer Bedeutung. Einerseits können Zivilgesellschaften aus den genannten Gründen auf Wahrheitserkenntnis nicht verzichten. Andererseits aber steht der Staat als Instanz für den Wahrheitsbesitz nicht zur Verfügung. Folglich ist die liberale Demokratie darauf angewiesen, dass der methodisch kontrollierte und ergebnisoffene Prozess der Suche nach der Wahrheit auf einem Schutzniveau mit Verfassungsrang garantiert ist: Wissenschaftsfreiheit muss garantiert werden, wenn in unserer Gesellschaft Freiheit sein soll!

Weitere Informationen

Georg Essen ist Professor für Systematische Theologie am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin

Literatur: H.M. Baumgartner, Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Vernunft über sich selbst, Bonn, Berlin 1991; G. Essen, Wahrheit und Freiheit. Eine dogmatische Normentheorie (Arbeitstitel); H. Kelsen, Ver-teidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hg. v. M. Jestaedt u. O. Lepsius, Tübingen 2006.