Stolperstein der deutschen Erinnerungskultur
Der 9. November in der deutschen Geschichte – ein sperriges Datum. Ein Beitrag des Historikers Dr. Hanno Hochmuth
06.11.2025
In Erinnerung an die Familie Najman verlegte Stolpersteine. Studierende des Masterstudiengangs Public History haben die Geschichte der Familie mitrecherchiert.
Bildquelle: privat
Woran denken Sie am 9. November? Das Datum gilt als Schicksalstag der deutschen Geschichte. Gleich vier bedeutende Ereignisse des 20. Jahrhunderts fielen auf diesen Tag: Am 9. November 1918 endete das Deutsche Kaiserreich mit der Ausrufung der Republik. Genau fünf Jahre später, am 9. November 1923, versuchte Adolf Hitler mit Erich Ludendorf, sich in München an die Macht zu putschen und die Weimarer Republik zu stürzen – was ihm knapp zehn Jahre später tatsächlich gelang. Am 9. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen, und zahllose jüdische Geschäfte wurden zertrümmert. Das Novemberpogrom gilt als ein entscheidender Schritt zum Holocaust. Der 9. November 1989, an dem die Berliner Mauer fiel, beendete schließlich die deutsche Teilung, die ein Ergebnis des deutschen Vernichtungskriegs war. So hängen alle vier Novemberereignisse historisch zusammen.
Erinnerung verändert sich, Erinnerungskultur auch
Der Historiker Dr. Hanno Hochmuth wurde vom Tagesspiegel in der Reihe „Die 100 wichtigsten Köpfe der Berliner Wissenschaft“ ausgezeichnet.
Bildquelle: Petra Koßmann
Die Ereignisse prägen bis heute die Erinnerungskultur. Die Erinnerung unterliegt jedoch einem steten Wandel. Damit ändert sich auch, wessen am 9. November gedacht wird.
Die Novemberrevolution von 1918 erfuhr zum 100. Jahrestag neue Aufmerksamkeit, weil runde Jahrestage unsere Erinnerungskultur strukturieren. Sie gewann aber auch an Aktualität, weil viele Menschen heute Analogien zu den Krisen der Weimarer Republik ziehen, die auf die unvollendete Revolution folgten.
Dagegen gilt dem Hitler-Ludendorf-Putsch von 1923 weitaus weniger Aufmerksamkeit, obwohl das Ereignis auf besondere Weise für die Bedrohung der Demokratie durch die radikale Rechte steht. Das Novemberpogrom von 1938 besitzt einen zentralen Stellenwert in der deutschen Erinnerungskultur. Doch die mahnende Bedeutung des Datums verliert an Kraft angesichts eines wiedererstarkenden Antisemitismus. Dabei ist das Pogrom aktueller denn je. Die furchtbaren Ereignisse von 1938 stehen in einem scharfen Kontrast zum glücklichen Mauerfall von 1989.
3. Oktober statt 9. November – eine Entscheidung gegen die Ambivalenz
Der 9. November ist ein sperriges Datum. Weil er nicht allein zum Feiern einlädt, wurde der profane 3. Oktober zum deutschen Nationalfeiertag ausgewählt. Dabei wäre der 9. November eine kluge Alternative zum Tag der Deutschen Einheit, weil er die ganze Ambivalenz der deutschen Geschichte in sich vereint und Anlass zum kritischen Nachdenken bietet.
Insofern passt der 9. November viel besser zu unserer postheroischen Erinnerungskultur, die sich vom traditionellen Heldengedenken verabschiedet und stattdessen das Opfergedenken in den Mittelpunkt stellt. Es gehört zu den großen geschichtspolitischen Herausforderungen, am 9. November gleichermaßen an die dunkelsten und an die hellsten Stunden der deutschen Geschichte zu erinnern. Und es gibt wohl keinen besseren Weg, an diesem Tag zu gedenken, als die Stolpersteine vor unseren Haustüren zu putzen.
Weitere Informationen
Dieser Text erscheint auch in der aktuellen Ausgabe des FU-Forschungsnewsletters et al., der am 13. November 2025 versandt wird.
Dr. Hanno Hochmuth ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Public History an der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Studierenden des Masterstudiengangs recherchierte er Biografien NS-verfolgter Jüdinnen und Juden und ließ Stolpersteine verlegen. Die Geschichte der Familie Najman erzählt der Historiker in seinem Buch „Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte“.


