„Die US-Präsidentschaftswahl könnte sich als ‚Game Changer‘ erweisen“
Prof. Dr. Tanja A. Börzel, Jean Monnet Lehrstuhl und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration
24.10.2024
Prof. Dr. Tanja A. Börzel, Jean Monnet Lehrstuhl und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration
Bildquelle: SCRIPTS
Im Jahr 2016, als Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde, bekräftigte die Europäische Union (EU) die Notwendigkeit, ihre „strategische Autonomie“ in den Bereichen Wirtschaft, Technologieentwicklung sowie Sicherheit und Verteidigung zu stärken. Der anhaltende Rückzug der USA von ihrer globalen Führungsrolle, die Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Abhängigkeiten der EU von China im Handel, Russland von der Energie und in Fragen der Sicherheit von den USA reduziert. Von strategischer Autonomie kann jedoch keine Rede sein. Dies liegt nicht allein an den komplexen Entscheidungsverfahren der EU. Vor allem Deutschland und Frankreich haben unterschiedliche Auffassungen, was strategische Autonomie oder „Europäische Souveränität“ (Macron) bedeuten und wie sie zu erreichen sind.
Die anstehende US-Präsidentschaftswahl könnte sich als „Game Changer“ erweisen, unabhängig von ihrem Ausgang. Auch die Transatlantikerin Kamala Harris würde als Präsidentin den strategischen Rückzug der USA aus Europa fortsetzen. Ein mit hoher Wahrscheinlichkeit republikanisch dominierter US-Senat würde der künftigen Unterstützung für die Ukraine enge Grenzen setzen und auch den Forderungen nach einer ausgewogeneren Lastenteilung innerhalb der NATO mehr Nachdruck verleihen. Mit dem Unilateralisten Donald Trump im Weißen Haus würde es eine ähnliche Entwicklung geben, allerdings sehr viel schneller und disruptiver. Die EU-Mitgliedstaaten würden nicht nur unter größeren Handlungsdruck geraten. Die Auseinandersetzung über die Frage, ob der Ausbau gemeinsamer Verteidigungsfähigkeiten unabhängig von der NATO erfolgen sollte, hätte sich mit einem Wahlsieg Trumps erledigt. Darauf sind wir Europäer*innen allerdings nicht vorbereitet.