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„Mut machen die Neugierde von Studierenden an gesicherten Informationen und respektvolle Diskussionen“

campus.leben-Reihe: Wie haben sich Forschung und Lehre seit dem 7. Oktober 2023 verändert? / Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag

02.10.2024

Prof. Dr. Ulrike Freitag

Prof. Dr. Ulrike Freitag
Bildquelle: Marc Beckmann

Am 7. Oktober 2024 jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Wir haben Wissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin aus Bereichen, die zur Region und zum Konflikt Naher und Mittlerer Osten lehren und forschen, gefragt: Wie blicken sie aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive auf die Situation im Nahen und Mittleren Osten?

Ein Beitrag der Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag

Der grausame Überfall der Hamas auf Israel kam als gewaltiger Schock, ebenso wie das Ausmaß des Vergeltungsschlags Israels und die andauernden Kämpfe zwischen beiden Seiten. Kurz danach war ich zur Forschung in verschiedenen Golfstaaten.

Ich bin Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient – selten sind mir die oft unüberbrückbaren Unterschiede in der Wahrnehmung der Ereignisse so eindringlich bewusst geworden wie bei diesem Forschungsaufenthalt. In Deutschland überwog das Entsetzen über die Tötung und Verschleppung israelischer Zivilisten, bei meinen arabischen Kollegen stand das Bombardement von Gaza im Vordergrund. Aber nicht nur das: Auf beiden Seiten gab es eine eklatante Verweigerung, das Leid der je anderen Seite anzuerkennen. Während in Deutschland jene, die auf die Vorgeschichte der jahrelangen Isolation Gazas und die Verhinderung der Zweistaatenlösung hinwiesen, als Verharmloser oder gar Rechtfertiger des Terrorismus diffamiert wurden, konnte man umgekehrt in den Golfstaaten leicht denken, dass Israel Gaza unprovoziert mit Krieg überzogen habe. 

Diese unvereinbaren Perspektiven finden sich auch bei Unterstützern beider Seiten in Deutschland wieder. Die Polarisierung hat den Campus der FU gespalten, sie läuft als Riss durch die Gesellschaft, die Medien und durch die Wissenschaft. Nicht nur die Meinungen über die Ereignisse differieren, sondern schon, welche Fakten überhaupt noch wahrgenommen werden. Die deutsche Angst vor Eskalation und das Verbot propalästinensischer Demonstrationen und etwa des Palästina-Kongresses in Berlin im April dieses Jahres haben die Chancen auf eine argumentative Auseinandersetzung weiter gesenkt. 

Mut macht die Neugierde von Studierenden an gesicherten historischen Informationen und respektvolle Diskussionen unter ihnen. Eine solche Diskussionskultur in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit wieder zu etablieren, ist unabdinglich, sollten wir zu einer Friedenslösung beitragen wollen.

Über die Autorin
Prof. Dr. Ulrike Freitag lehrt Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Direktorin am Leibniz-Zentrum Moderner Orient.

Weitere Informationen

Alle Beiträge der campus.leben-Reihe „Wie haben sich Forschung und Lehre seit dem 7. Oktober verändert?“ finden Sie auf der Schwerpunktseite Naher und Mittlerer Osten.