„Die Konfliktforschung wird ihrem Auftrag derzeit nicht gerecht“
campus.leben-Reihe: Wie haben sich Forschung und Lehre seit dem 7. Oktober 2023 verändert? / Konfliktforscher Jannis Grimm
01.10.2024
Am 7. Oktober 2024 jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Wir haben Wissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin aus Bereichen, die zur Region und zum Konflikt Naher und Mittlerer Osten lehren und forschen, gefragt: Wie blicken sie aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive auf die Situation im Nahen und Mittleren Osten?
Ein Beitrag des Konfliktforschers Dr. Jannis Grimm
Der Terror der Hamas am 7. Oktober, die israelische Kriegsführung in Gaza und die Gewalteskalation im Libanon werfen ein scharfes Licht auf zentrale Herausforderungen der Friedens- und Konfliktforschung, insbesondere hinsichtlich der Anerkennung der Gleichzeitig- und Gleichwertigkeit der Leid- und Gewalterfahrungen von Kriegsbetroffenen. Diese Anerkennung ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern bildet auch die Grundlage für wissenschaftliche Differenz und analytische Tiefe. Die Unfähigkeit oder der Unwille weiter Teile der akademischen Disziplin, das gleichzeitige Leid verschiedener Gewaltbetroffener zu sehen und zu thematisieren, hat zwangsläufig zu einer verzerrten Wahrnehmung der Konfliktrealitäten im Nahen Osten geführt – in der Öffentlichkeit wie in der Forschung.
Ein zentrales Problem ist dabei die Behandlung der Kriege in Palästina/Israel und Libanon als Nullsummenspiele. Diese Sichtweise reduziert komplexe Konfliktkonstellationen auf Dichotomien, in denen das Leid einer Bevölkerung und ihre berechtigten Ansprüche auf Sicherheit die einer anderen negieren. Dies manifestiert sich insbesondere in der selektiven (De)Legitimation von Handlungen der Konfliktparteien. So soll das Völkerrecht mal die israelische Militäraktion im Kontext der Selbstverteidigung gegen Terror rechtfertigen, wird dann aber ignoriert, wenn es um die Besatzung palästinensischer Gebiete oder die israelischen Anschläge im Libanon geht.
Ebenso beunruhigend ist die selektive Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse, die je nach politischer Opportunität herangezogen oder ignoriert werden. So wurden Gewaltforschende, die die genozidale Dimension des Massakers der Hamas am 7. Oktober hervorhoben, zu Recht stark rezipiert. Die Einordnung der Rechtsbrüche der israelischen Armee in Gaza als Völkermord durch dieselben Forschenden erfährt hierzulande dagegen kaum Aufmerksamkeit oder wird aktiv ausgeblendet. Diese selektive Rezeption wissenschaftlicher und völkerrechtlicher Positionen riskiert, die Glaubwürdigkeit der Konfliktforschung zu untergraben.
Dass die Konfliktforschung ihrem zentralen Auftrag, Gewalt in all ihren Formen zu benennen und zu analysieren, derzeit nicht gerecht wird, gibt Anlass zur Sorge. Statt Verständnis für die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von menschlichem Leid zu fördern, verstrickt sie sich in politischen Grabenkämpfen und abstrakten Diskussionen über die angemessene analytische Sprache zur Beschreibung der Ereignisse im Nahen Osten. Die Disziplin verharrt so in einer Art normativem Stillstand, während die realen Konfliktdynamiken unvermindert weitergehen. In Anbetracht dieser Entwicklungen bedarf es einer tiefgreifenden Selbstreflexion und Kurskorrektur.
Über den AutorDr. Jannis Grimm ist Konfliktforscher an der Freien Universität Berlin. Er leitet die Forschungsgruppe „Radikale Räume / Radical Spaces“ am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung.
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