„War die jahrzehntelange Arbeit für Erinnerung und Toleranz umsonst?“
campus.leben-Reihe: Wie haben sich Forschung und Lehre seit dem 7. Oktober 2023 verändert? / Judaist Giulio Busi
04.10.2024
Am 7. Oktober 2024 jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Wir haben Wissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin aus Bereichen, die zur Region und zum Konflikt Naher und Mittlerer Osten lehren und forschen, gefragt: Wie blicken sie aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive auf die Situation im Nahen und Mittleren Osten?
Ein Beitrag des Judaisten Professor Giulio Busi
Bücher werden aus den Regalen genommen und dorthin gestellt. Aber der Krieg, in welches Regal kann er gestellt werden? Die ersten Bilder des Massakers vom 7. Oktober habe ich, wie fast alle anderen, auf den Seiten der Online-Zeitungen gesehen, die im Laufe der Stunden immer beängstigender wurden. Aber mein privates Gedächtnis, so wie ich es jetzt rekonstruieren kann, ist voll von Kommentaren, von Stimmen am Telefon, von Nachrichten von Freunden auf WhatsApp. Durch die digitale Welt drang die absolute Gewalt in unsere Häuser ein, und wir fühlten uns verletzlich, verloren, besiegt.
In diesen Stunden der Angst dachte ich oft an das Institut für Judaistik, das ich seit vielen Jahren leite. Wie würden unsere Studierenden reagieren, wie würden wir mit ihnen reden, wie würde die gesamte Universität auf ein Ereignis reagieren, das ich mit keiner anderen historischen Erfahrung vergleichen konnte, die ich erlebt hatte? Die folgenden Monate brachten mir keine Antworten. Wir wurden Zeugen von viel mehr Gewalt, Zerstörung und Schmerz. Aber einen erschöpfenden Grund, eine Klärung, habe ich nicht gefunden.
Wer sich sein Leben lang mit dem Judentum beschäftigt hat, und zwar in Deutschland, der neigt dazu, zwischen einem Vorher und einem Nachher zu unterscheiden. Der 7. Oktober 2023 erscheint mir wie ein Abgrund, dessen Boden nicht zu erkennen ist. Haben wir versagt? Ist die Welle des Hasses, die auf diesen tragischen Tag folgte, nicht der Beweis dafür, dass unsere jahrzehntelange Arbeit im Namen der Erinnerung an Verfolgung und Toleranz umsonst war? Die Geschichte steht nicht still. Nichts in der menschlichen Erfahrung ist statisch, und es ist auch nicht möglich, sich das Judentum ohne seine ständige Fähigkeit zur Anpassung und Veränderung vorzustellen. Zugegeben, ich habe lange Zeit gezweifelt. Aber inmitten meiner Zweifel habe ich meine Arbeit fortgesetzt. Ich habe gelehrt, gelesen und geschrieben. Das ist es, was ich zu tun weiß. Und der Versuch zu verstehen, ist notwendig, auch und gerade nach dem 7. Oktober.
Über den AutorGiulio Busi ist Professor für Judaistik und Geschäftsführender Direktor des Instituts.
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