„Die Selbstverständlichkeit und Wertschätzung der überregionalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist verlorengegangen“
campus.leben-Reihe: Wie haben sich Forschung und Lehre seit dem 7. Oktober 2023 verändert? / Arabistin Beatrice Gründler
01.10.2024
Am 7. Oktober 2024 jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Wir haben Wissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin aus Bereichen, die zur Region und zum Konflikt Naher und Mittlerer Osten lehren und forschen, gefragt: Wie blicken sie aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive auf die Situation im Nahen und Mittleren Osten?
Ein Beitrag der Arabistin Professorin Beatrice Gründler
Der 7. Oktober hatte nach den weltweiten Auswirkungen und dem Verlust von vielen Tausend Leben ein weiteres Opfer: die Selbstverständlichkeit und Wertschätzung der überregionalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Dies trifft besonders Forscher*innen auf beiden Seiten, die an Werken arbeiten, deren hebräische und arabische Versionen aufs Innigste miteinander verbunden sind.
Als Professorin für Arabistik am Seminar für Semitistik und Arabistik leite ich das Forschungsprojekt „Kalīla and Dimna – AnonymClassic/ALC". In unserem Forschungsteam zu diesem kosmopoliten Fabelwerk, das in mehr als 40 Sprachen überlebt, fokussieren wir auf Syrisch, Arabisch, Hebräisch, Latein, Griechisch und Neupersisch, wobei die hebräische Version die Brücke zur europäischen Verbreitung bildet. Diese Fassung ist in einem „arabisierten“ Hebräisch verfasst, während frühe Fragmente des Werks in Judeo-Arabisch in hebräischer Schrift geschrieben sind. Beide Sprachen gehören der semitischen Familie an und beeinflussten sich in der Vormoderne fortwährend gegenseitig.
Ebenso divers sind die Mitarbeitenden und Partner*innen des Forschungsteams aus der gesamten Region von Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten, Israel und die Palästinensischen Territorien eingeschlossen. Das Miteinander der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist in Zeiten von Konflikten ein hohes Gut. Manche Mitarbeiter*innen leiden aber zugleich unter hoher Belastung, sind in Sorge um Familienmitglieder und sehen sich konfrontiert mit einer verengten öffentlichen Wahrnehmung und auf sie projizierte Vorurteile.
2023 stellten wir in Kooperation mit der Spanischen Botschaft in der Mendelssohn-Remise am Gendarmenmarkt eines unserer Kapitel in einer multisprachigen theatralischen Darbietung vor. Wir bekamen stehende Ovationen vor vollem Haus. Ob das so heute möglich wäre, ist fraglich, obwohl es gerade jetzt mehr denn je zählt, politischen Konflikt und Kultur auseinanderzuhalten und das Potenzial der Letzteren zum gegenseitigen Verständnis auszuschöpfen.
Über die AutorinProf. Dr. Beatrice Gründler erforscht die arabisch-europäische Kulturgeschichte. 2017 erhielt sie dafür den Leibniz-Preis.
Weitere Informationen
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