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Von A wie Akribie bis Z wie Zufall: 20 Jahre Forschungsstelle „Entartete Kunst“

Am 19. Dezember feierten Gründer, Mitarbeitende, Förderer und Freunde im Brücke-Museum das Jubiläum der am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität angesiedelten Einrichtung

16.01.2024

Dr. Meike Hoffmann leitet die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ . Das Bild zeigt die Kunsthistorikerin bei einer Pressekonferenz am 5. November 2013.

Dr. Meike Hoffmann leitet die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ . Das Bild zeigt die Kunsthistorikerin bei einer Pressekonferenz am 5. November 2013.
Bildquelle: picture alliance / REUTERS / MICHAEL DALDER

Meike Hoffmann, Leiterin der Forschungsstelle „Entartete Kunst“, erläuterte in ihrem Festvortrag, dass der Zufall ein fester Bestandteil der Provenienzforschung und damit ihrer Arbeit sei. So seien in den vergangenen Jahren immer wieder Schriftstücke und Fotos aufgetaucht, von deren Existenz man zuvor nicht gewusst habe.

Um den Zufall zu begünstigen, sei jedoch die systematische Dokumentation aller Forschungsergebnisse samt relevanter Quellen notwendig. Dies sei in den Anfängen der Forschungsstelle mit der Einrichtung der Datenbank „Entartete Kunst" in die Wege geleitet worden. Die Datenbank gibt Auskunft über die Beschlagnahme moderner Kunstwerke aus deutschen Museen während des Nationalsozialismus sowie deren Verbleib bis zum heutigen Standort. Die Forschungsstelle wurde im Jahr 2003 von Wolfgang Wittrock, Vorstand der Ferdinand-Möller-Stiftung, Berlin, initiiert.

Den Begriff Zufall müsse sie allerdings einschränken, sagte die promovierte Kunsthistorikerin: „Ich spreche vom ‚kalkulierten Zufall‘, dem durch akribische langjährige Forschungsarbeit Vorschub geleistet wird.“ Ein Beispiel: Der Film „Venus vor Gericht" des Regisseurs Hans H. Zerlett aus dem Jahr 1941, über den sie bei einer von ihr organisierten wissenschaftlichen Veranstaltung mit Expert*innen diskutiert habe.

2010, bei der Grabung vor dem Roten Rathaus, entdeckt: Skulpturen von Gustav Heinrich Wolff (stehende Gewandfigur, links); Naum Slutzky (weibliche Büste, Mitte) und ein unidentifiziertes Werk.

2010, bei der Grabung vor dem Roten Rathaus, entdeckt: Skulpturen von Gustav Heinrich Wolff (stehende Gewandfigur, links); Naum Slutzky (weibliche Büste, Mitte) und ein unidentifiziertes Werk.
Bildquelle: Landesdenkmalamt Berlin

Im Nachgang der Gespräche fand sich zufällig eine Korrespondenz des Regisseurs, aus der hervorgeht, dass für die Ausstattung der fiktiven jüdischen Kunsthandlung, die in dem Film eine Rolle spielt, originale Kunstwerke verwendet wurden, die von den Nazis als „Entartete Kunst" beschlagnahmt worden waren. Ein weiterer sich hieran anschließender Zufall ereignete sich im Jahr 2010, als beim Bau des U-Bahnhofs Rotes Rathaus in Berlin-Mitte mehrere Klein-Plastiken aus Bronze und Terrakotta gefunden wurden, die sich anhand der Datenbank „Entartete Kunst“ schnell als Restbestände der Beschlagnahmeaktion identifizieren ließen, darunter auch einige der Stücke die Regisseur Zerlett für seine Film-Galerie verwendet hatte. Darauf aufbauende Recherchen ergaben, dass diese Objekte nach den Dreharbeiten in ein Depot des Reichspropagandaministeriums zurückgebracht worden waren, das 1944 durch Bomben zerstört wurde.

Absolvent*innen der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ recherchieren auch zu einzelnen Künstlern und Künstlerinnen. An den Beispielen von Otto Dix und Emil Nolde erwähnte Meike Hoffmann, dass die verfemten Künstler der Zeitperiode 1933-1945 oft zu Helden stilisiert wurden und werden. An der Forschungsstelle untersuche man, wie sich die Künstler tatsächlich im Alltag verhalten haben. Die Ergebnisse würden zu einer Neubewertung führen. So wären viele der in Deutschland gebliebenen Künstler und Künstlerinnen Kompromisse mit der NS-Kunstideologie eingegangen, vor allem bei den Motiven und Themen ihrer Arbeiten. Erstaunlich häufig hätten sie nach ihrer Verfemung erfolgreich versucht, Werke bei der jährlich vom Reich organisierten Großen Deutschen Kunstausstellung in München zu zeigen.

Der die Medienwelt lange Zeit in Atem haltende Fund der Gurlitt-Sammlung, der sogenannte Schwabinger Kunstfund, im Jahr 2012 hat die Arbeit der seit 2003 bestehenden Forschungsstelle stark geprägt. Meike Hoffmann begutachtete damals im Auftrag der Staatsanwaltschaft Augsburg und später des Bundes mehr als 1.500 verschollen geglaubte Werke, die in einer Münchner Wohnung aufgetaucht waren. Der Gurlitt-Fund hat aber auch insgesamt zu bedeutenden Fortschritten in der Provenienzforschung geführt.

Im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung präsentierten drei Studentinnen ihre Forschungsergebnisse, unter anderem zu der im Nationalsozialismus verfolgten Malerin Klara Fehrle-Menrad. Die frühe Verbindung von Forschung und Lehre, die Einbindung von Studierenden in die Untersuchung der Herkunftswege von Kunstwerken, zeichnen die Arbeit der an der Freien Universität Berlin angesiedelten Forschungsstelle aus.

Das akademische Ausbildungsprogramm zur Provenienzforschung der Forschungsstelle war 2011 das erste weltweit und galt damals als Nischengebiet. Aufgrund des plötzlichen öffentlichen Interesses am Thema Raubkunst und dem Schicksal von Kunstwerken ist die Nachfrage nach dieser Ausbildung stark gestiegen. Heute werden am Kunsthistorischen Institut Seminare zu verschiedenen Themen aus dem Bereich der Provenienzforschung angeboten. Die Forschungsstelle kooperiert dabei mit Berliner Museen und Archiven, insbesondere mit dem Brücke-Museum.

Thomas W. Gaehtgens, emeritierter Kunsthistoriker der Freien Universität und Mitbegründer der Forschungsstelle, betonte, dass es vor etwa 20 Jahren kaum Provenienzforschung gegeben habe. Museen und Kunsthändler hätten wenig Interesse an professioneller Recherche gehabt, um herauszufinden, wie Objekte in ihre Galerien oder Sammlungen gelangt sind.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten habe sich jedoch ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Heute betreiben nicht nur Kunstgeschichte und Kunsthandel Provenienzforschung, sondern auch Museen, Archive und Bibliotheken, unterstützt von der Politik. Dabei steht nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus’ im Fokus, sondern auch die kolonialer Herrschaftsstrukturen, die unter anderem Exponate aus Afrika in europäischen Sammlungen brachte und heute Restitutionsfragen aufwirft: „Diese Aufmerksamkeit ist nicht zuletzt das Verdienst dieser Forschungsstelle“, sagte Thomas W. Gaehtgens.

Die Forschungsstelle wurde seit ihrer Gründung hauptsächlich von der Ferdinand-Möller-Stiftung finanziert. Weitere Unterstützung kam von der Gerda Henkel Stiftung, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Kulturstiftung der Länder. Zu den Förderern zählen auch der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität sowie die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.