Wie gerecht ist unsere Gesellschaft in der Krise?
campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 6 : Interview mit Stefan Gosepath, Professor für praktische Philosophie an der Freien Universität
14.04.2020
Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Kultur? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin blicken in der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive auf die derzeitige Situation: Im aktuellen Interview sprach Dennis Yücel mit Stefan Gosepath, Professor für praktische Philosophie an der Freien Universität, über Freiheitsbeschränkungen, sogenannte Triage-Entscheidungen und die Frage nach Gerechtigkeit in Pandemiezeiten.
Herr Professor Gosepath, die öffentliche Debatte dreht sich um die Frage, ob und wie lange die beschlossenen Freiheitseinschränkungen mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Was sagen Sie als Philosoph dazu?
Die Frage, wie lange unsere Verfassung solche Freiheitseinschränkungen aushält, ist in der Tat keine geringe. Der Rechtsstaat kommt hier an eine Belastungsprobe. Dennoch sind diese Freiheitseinschränkungen auch in unserer Gesellschaft ethisch geboten. Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des Anderen verletzt wird. Wenn meine Freiheitsnutzung also zu einem Gesundheitsrisiko für andere wird, weil ich Viren übertragen könnte, dann muss ich – oder der Staat für mich – meine Freiheit einschränken.
Unser demokratisches Versprechen lautet: gleiche Freiheit für jedermann und jederfrau. Dazu gehört auch, dass ich mein Leben möglichst sicher, also auch möglichst frei von Ansteckungsgefahr leben kann. Wenn allerdings dafür die Freiheit des Anderen so stark beschnitten werden muss, dass sie praktisch nicht mehr ausgeübt werden kann, entsteht eine schwierige Abwägungssituation. Wie so oft geht es hier um das richtige Maß. Politik und Gesellschaft sind gefragt, sich auf ein austariertes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit zu verständigen.
In Italien stehen für COVID-19-Patienten zu wenige Beatmungsgeräte zur Verfügung. Ärztinnen und Ärzte müssen entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Auch in Deutschland könnte – wenn sich die Zahl an Neuerkrankungen nicht verringert – eine „Triage“-Situation drohen. Wie kann man bei so einer ungeheuerlichen Frage zu einer Entscheidung finden?
Das ist eine ethische Herausforderung, der sich die Gesellschaft der Bundesrepublik in dieser Schärfe noch niemals stellen musste. Es ist eine Situation, wie man sie vor allem aus Kriegen kennt.
Wichtig ist zunächst, sich zu vergegenwärtigen, dass dies keine rein medizinische Entscheidung ist, sondern eine ethische. Deshalb ist eine transparente gesellschaftliche Debatte wichtig: Welche Regeln wollen wir als Gesellschaft festlegen, nach denen Beatmungsgeräte rationiert werden? Geht es uns darum, möglichst viele Menschenleben zu retten oder möglichst viele Menschenjahre? Sollen wir eher danach entscheiden, wer eine gute Überlebenschance hat – oder wer noch am meisten „gutes“ Leben vor sich hat? Wir könnten auch nach Losverfahren entscheiden. Oder schlicht danach, wer zuerst ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Wenn es zur Überlastung des Gesundheitssystems kommt, soll nach Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland nach dem Kriterium der medizinischen Erfolgsaussichten entschieden werden.
Wie kann die Philosophie bei der Entscheidungsfindung helfen?
Es hilft, sich zu vergegenwärtigen, mit welchem Moralprinzip man an die Frage herangehen will. Gegenwärtig bieten sich in der Philosophie zwei große Leitlinien an. Da gibt es einmal die utilitaristische Argumentation, die vor allem in angelsächsischen Ländern sehr verbreitet ist. Und dann gibt es die deontologische Argumentation, die vor allem durch Immanuel Kant geprägt ist, und die in Deutschland eher verbreitet ist. In Italien, wo derzeit nach Lebensjahren rationiert wird, erleben wir eine utilitaristische Entscheidung.
Wie sieht die utilitaristische Argumentation aus?
Man geht vom größten Nutzen aus. Man argumentiert, dass es nützlicher sei, das Beatmungsgerät einer jüngeren Person zu geben als einer älteren, von der man davon ausgeht, dass sie nicht mehr viel Lebenszeit vor sich hat und auch gesellschaftlich nicht mehr produktiv sein wird.
Man entscheidet also nicht nur danach, was für ein Individuum von größtem Nutzen ist – sondern auch danach, welchen Nutzen das Individuum für die Gesellschaft hat?
Ja. Das Prinzip des Utilitarismus lautet: Größtmöglicher Nutzen bzw. Wohlergehen für möglichst viele. Ein weiteres Beispiel, das vermutlich leichter nachzuvollziehen ist: Man entscheidet, dass man erkranktes Krankenhauspersonal bei der Vergabe von Beatmungsgeräten bevorzugt. Denn wenn Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger ausfallen, steht die gesamte Gesundheitsversorgung auf dem Spiel. Das Leben einer Ärztin zu retten, erscheint dann nützlicher als beispielsweise das eines Gärtners.
Man sollte allerdings genau abwägen, ob man eine solche Rationierung nach dem Nutzen von Individuen gesellschaftlich vertreten möchte – oder ob man sich nicht eher um eine egalitäre Lösung bemühen will.
Wie würde man mit einer deontologischen Prämisse an die Frage herangehen?
Das deontologische Prinzip lautet: gleiches Recht für alle, weil die Menschenwürde für alle gilt. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Entsprechend verbietet es die Menschenwürdegarantie im Grundgesetz, ein Menschenleben gegen ein anderes abzuwägen. Der Staat darf keine Wertung vornehmen. Dieser Grundsatz macht eine Priorisierung von Gesundheitsressourcen, wenn sie denn nötig werden, nicht einfacher.
Eine deontologische Ethik würde mit einem Gedankenspiel beginnen. Man überlegt sich: Welche Regelung würde man gutheißen, wenn man selber nicht weiß, welche Rolle man in diesem Verteilungssystem gerade spielt – wenn man also nicht weiß, ob man selbst eine „nützliche“ Person ist oder nicht, ob man alt ist oder nicht, gute Überlebenschancen hat oder nicht. Ziel ist dann, ein neutrales Entscheidungsverfahren zu entwickeln, das keine Personengruppe bevorzugt.
Wie blicken Sie als Moralphilosoph auf die aktuelle Situation und in die Zukunft?
Ich denke, es wird sich im weiteren Verlauf der Pandemie verstärkt zeigen, inwiefern die zentralen Institutionen eines Staates – sein politisches System, seine wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme, sein Gesundheitssystem, sein Wirtschaftssystem – gerecht sind oder nicht.
In einem Land wie Deutschland beispielsweise mit einem einigermaßen anständig funktionierenden Gesundheitssystem werden Menschen aus allen Einkommensschichten etwa gleich stark von der Krankheit betroffen sein. In den USA hingegen, wo es praktisch unter anderem kein öffentliches Gesundheitssystem, kaum Arbeitnehmerschutz und fast nur private Altersvorsorge gibt, ist zu erwarten, dass es sozial schwächere Gruppen deutlich schwerer treffen wird.
Eine natürliche Krankheit hat also in verschiedenen Staaten unterschiedliche Auswirkungen. Diese unterschiedlichen Folgen haben wir Menschen und vor allem unsere politischen Stellvertretungen moralisch und politisch zu verantworten. Die Folgen hängen nämlich zum einen von den ergriffenen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung ab und zum anderen von den vorhandenen politisch-sozialen Institutionen, wie man am Ländervergleich Deutschland und USA sehen kann.
Noch weitaus schlimmere Ungleichheiten und höhere Todeszahlen sind zu befürchten, wenn die Krankheit die ärmsten Staaten dieser Welt erreicht, vorrangig auf dem afrikanischen Kontinent. Die Corona-Pandemie wird die Ungerechtigkeiten von nationalen und internationalen Verteilungssystemen verschärfen und auf ein schier unerträgliches Maß zuspitzen. Im Nachgang der Krise wird man darüber reden müssen, wie diese politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme weltweit endlich gerechter gestaltet werden können, um allen Menschen wenigstens einen minimalen Schutz ihres Lebens im Sinne der Menschenrechte zu gewährleisten.
Weitere Informationen
Lesen Sie alle Interviews der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“:
- Prof. Dr. Claudia Müller-Birn: „Wie können wir die Tracing-App gestalten, damit sie auch genutzt wird?“
- Prof. Dr. Tanja Börzel: „Die EU hat in Krisen Resilienz bewiesen“
- Prof. Dr. Eun-Jeung Lee: "Inzwischen versuchen viele Länder, aus den koreanischen Erfahrungen zu lernen"
- Prof. Dr. Joachim Trebbe: „Wir kommunizieren mehr als sonst in Blasen“
- Prof. Dr. Stefan Gosepath: Wie gerecht ist unsere Gesellschaft in der Krise?
- Dr. Carolin Auschra: „Organisationen und Systeme verändern sich oft in Zeiten großer Krisen“
- Prof. Dr. Hansjörg Dilger: „Corona ist ein Spiegel der Globalisierung und der durch sie verursachten Ungleichheiten“
- Prof. Dr. Lars Gerhold und Roman Peperhove: „Jeder ist potenziell betroffen – aber jeder kann auch etwas tun“
- Prof. Dr. Paul Nolte: „Wir werden jahrzehntelang an diesem Trauma zu knacken haben“
- Prof. Dr. Martin Voss: „Wo wir es wollen, können wir ganz fundamentale Weichen für die Zukunft stellen“
Englische Übersetzungen:
- Interview with Claudia Müller-Birn: “How should we design the tracing app so that people want to use it?”
- Interview with Tanja Börzel: “The European Union has proven its resilience in times of crisis”
- Interview with Professor Eun-Jeung Lee: “Many countries are now trying to learn from the Korean experience”
- Interview with Professor Joachim Trebbe: “We are communicating more than usual in bubbles”
- Interview with Carolin Auschra: “Organizations and systems often change in times of great crisis”
- Interview with Professor Hansjörg Dilger: “The coronavirus pandemic is a mirror of globalization and the inequalities it has produced”
- Interview with Lars Gerhold and Roman Peperhove: “Everyone is potentially affected, but everyone can also do something”
- Interview with Paul Nolte: “We are going to be working through this trauma for decades to come”
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