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„Wo wir es wollen, können wir ganz fundamentale Weichen für die Zukunft stellen“

Start der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 1: Interview mit dem Sozialwissenschaftler Martin Voss von der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität

26.03.2020

Die Corona-Pandamie aus wissenschaftlicher Perspektive: Zum Auftakt unserer neuen campus.leben-Serie sprach Dennis Yücel mit dem Soziologieprofessor Martin Voss.

Die Corona-Pandamie aus wissenschaftlicher Perspektive: Zum Auftakt unserer neuen campus.leben-Serie sprach Dennis Yücel mit dem Soziologieprofessor Martin Voss.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? In einer neuen Serie bitten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin, aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive auf die derzeitige Situation zu blicken. Das Auftaktinterview führte Dennis Yücel mit Soziologieprofessor Martin Voss: über die Gefahr, schwache Gruppen aus dem Blick zu verlieren und die aktuelle Forschung zu Corona, die an der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität stattfindet.

Herr Professor Voss, wie bewerten Sie als Katastrophenforscher den derzeitigen Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland?

Ich sehe es sehr positiv, dass die deutsche Gesellschaft rigide aber notwendige Maßnahmen wie die jüngst verhängte „Kontaktsperre“ bislang weitestgehend konfliktfrei mitträgt. Daran zeigt sich auch, dass es eine solide Vertrauensbeziehung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den staatlichen Institutionen gibt. Die Institutionen beweisen bei aller berechtigten Kritik, dass sie im föderalen System handlungsfähig sind.

Wir haben ein hohes freiwilliges Engagement in unserer Gesellschaft und ein durchaus robustes Sozialwesen. Während die Reaktion von Staat und Zivilgesellschaft bislang vernünftig ist, offenbaren sich jedoch im Bereich der Prävention eine Reihe von fundamentalen Fehlern.

Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Martin Voss leitet seit 2011 die an der Freien Universität Berlin angesiedelte Katastrophenforschungsstelle.

Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Martin Voss leitet seit 2011 die an der Freien Universität Berlin angesiedelte Katastrophenforschungsstelle.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Welche sind das?

Es hat sich bestätigt, dass unsere medizinische Infrastruktur doch sehr verletzlich ist, und es rächt sich, dass wir nicht global gedacht haben. Wir sind abhängig von störanfälligen Logistikketten bei der medizinischen Grundversorgung, wir sind zu knapp ausgestattet mit medizinischem Equipment wie Beatmungsgeräten, es fehlt an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln und vor allem an Personal. Daran sind wir alle mit Schuld: Katastrophenprävention interessiert kaum, solange die Hütte noch nicht lichterloh brennt.

Allgemein kümmert sich unsere Gesellschaft nicht genügend darum, wie es in anderen Ländern aussieht. Diese Ignoranz rächt sich nun bitter. Aber vielleicht lernen wir jetzt, dass wir tatsächlich alle Familienmitglieder sind in einer auf das Engste vernetzten Welt. Es ist damit auch eine historische, sogar epochale Chance.

Die Katastrophe als Chance?

Zum Teil, ja. Es ist ganz zentral, dass man sich vergegenwärtigt, dass eine solche Krise kein schicksalhafter Prozess ist. Wir haben selbst in der Hand, wie wir mit ihr umgehen. Gerade in der Katastrophe zeigt sich, wie gestaltbar die Welt doch eigentlich ist. Wo wir es wollen, können wir ganz fundamentale Weichen für die Zukunft stellen.

Worauf kommt es jetzt an?

Die Bundesregierung betrachtete die derzeitige Situation lange primär unter dem Blickwinkel einer epidemiologischen Problemlage. Bei aller berechtigten Sorge um die Infizierten und Erkrankten dürfen andere vulnerable Gruppen nicht aus dem Blick geraten: Hunderttausende hierzulande und Millionen weltweit werden in den nächsten Wochen und Monaten in existenzielle Nöte geraten. Für Menschen etwa mit psychischen Erkrankungen stellt die „Kontaktsperre“ eine besondere Herausforderung dar.

Leider müssen wir davon ausgehen, dass sich hier ein weites Feld von sekundär Betroffenen auftun wird: Alkohol- und Drogenmissbrauch, Fälle von häuslicher Gewalt werden verstärkt auftreten, Suizide werden sich häufen. Um durch psychische Erkrankungen besonders gefährdete Menschen müssen wir uns in den nächsten Wochen verstärkt kümmern. Aber wir müssen auch nach Afrika und Asien schauen. Was passiert, wenn das Virus in den Slums ankommt? Ich fürchte hier das Allerschlimmste – und das wird uns ebenfalls einholen.

Arbeiten Sie an der Katastrophenforschungsstelle (KFS) auch zur Corona-Epidemie?

Wir sind im Rahmen einer „Quick-Response-Forschung“ schon mitten drin. Cordula Dittmer und Daniel F. Lorenz, beide wissenschaftliche Mitarbeitende an der KFS, begleiten aktuell bereits verschiedene Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit, etwa bei Quarantäne-Maßnahmen. Sie untersuchen, wo besondere Probleme bestehen und welche Erkenntnisse sich aus der „Flüchtlingskrise“ 2015 und 2016 übertragen lassen. Außerdem begleiten wir den Aufbau des Hilfskrankenhauses in den Berliner Messehallen. Ich selbst biete ein wöchentliches Informationswebinar zu Covid-19 an.

Außerdem führen wir unter Leitung von Katja Schulze eine deutschlandweite Befragung zur Stimmungslage in der Bevölkerung durch. Da gibt es bereits hohe Resonanz. Geld bekommen wir dafür nicht, es gibt keinen Auftraggeber, und so können wir wirklich ganz unabhängig arbeiten. Ziel ist es, Handlungsbedarfe des Staates und von Hilfsorganisationen zu erkennen.

Besonders wichtig ist, dass der Bevölkerung der Sinn und Zweck aller Maßnahmen vermittelt wird. Die wichtigste Ressource zur Bewältigung einer Krise ist Vertrauen – in sich selbst, in andere und insbesondere in die Institutionen, die an der Schadensreduktion arbeiten.

Die Fragen stellte Dennis Yücel

Weitere Informationen

Lesen Sie alle Interviews der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“:

Englische Übersetzungen: