„Wir sind die Mehrheit – aber die muss sich auch in Bewegung setzen!“
Zum Auftakt des neuen Veranstaltungsformats „Debatte Dahlem“ diskutierten Claudia Roth, Norbert Lammert und Sabine Kropp über die politische Debattenkultur in Zeiten zunehmender Polarisierung
13.02.2019
In verschiedenen Parteien gemeinsam für die Demokratie: Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und Norbert Lammert (CDU), ehemaliger Bundestagspräsident, am 4. Februar 2019 bei der Debatte Dahlem an der Freien Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Die entscheidende Arbeit findet nicht im Plenarsaal, sondern in den Ausschüssen statt. Doch der Aufstieg einer Partei, die sich Alternative für Deutschland nennt, hält dazu an, der Rede im Parlament wieder größere Aufmerksamkeit zu widmen.
Wie die AfD die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig zu verändern droht, wie sich das Auftreten und Verhalten von Abgeordneten auf die parlamentarische Debattenkultur auswirkt, und wie diesen Veränderungen begegnet werden kann, darüber diskutierten Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Norbert Lammert (CDU) und Politikprofessorin Sabine Kropp von der Freien Universität in der Auftaktveranstaltung des neuen öffentlichen Diskussionsformats „Debatte Dahlem“; moderiert von der stellvertretenden Leiterin des Hauptstadtbüros der Rheinischen Post, Kristina Dunz. Der Einladung in den Hörsaal A im Henry-Ford-Bau waren fast 400 Zuhörerinnen und Zuhörer gefolgt, darunter viele Studierende.
Das Klima im Bundestag, sagte dessen Vizepräsidentin Claudia Roth, habe sich „radikal“ verschlechtert. Die Verantwortung dafür sieht sie bei der AfD und deren systematischen Provokationen durch aggressive Zwischenrufe, persönliche Diffamierung und geschichtsrevisionistische Tabubrüche.
Konsens unter Demokraten
Auch sei ein neuer „virulenter Sexismus“ festzustellen. Die Politikerin berichtete von einem AfD-Abgeordneten, der Angela Merkel quer durch den Plenarsaal zugebrüllt habe: „Wer keine Eier hat, sollte nicht regieren.“ Auch das Verhalten der AfD in den auf Sacharbeit ausgelegten Ausschüssen sei geprägt von blockiererischen Anträgen und verbalen Angriffen auf Minderheiten.
„Wir erleben die Verächtlichmachung von demokratischen Institutionen, den Missbrauch von Meinungsfreiheit und den Versuch der Umdeutung der Geschichte, den ich für sehr gefährlich halte.“ Diese Trendwende zur Illiberalisierung, gegen die sich das Land lange Zeit immun geglaubt habe, erschüttere das Selbstverständnis der Bundesrepublik grundlegend. „Da braucht es einen Konsens unter den Demokraten, dem zu widersprechen.“Ein Konsens, der nicht immer gegeben sei, sagte Roth, denn der von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt geprägte und zum Unwort des Jahres gekürte Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ sei ja gerade nicht der AfD entsprungen.
Norbert Lammert, von 2005 bis 2017 Bundestagspräsident, sieht „den Konsens der Demokraten im Bundestag ungefährdet“. Der CDU-Politiker gab sich betont gelassen: Nach seinem Empfinden ist „der aktuelle Bundestag nicht der polarisierteste aller Zeiten“.
Er erinnerte etwa an die beiden ersten Bundestage nach Gründung der Bundesrepublik und auch an das Jahr 1983, als die Grünen zum ersten Mal ins Parlament eingezogen waren. Da habe es eine „nicht weniger ausgeprägte Neigung zu stilistischen Ausfällen“ gegeben – etwa als sich Joschka Fischer, damals Grünen-Abgeordneter, gegenüber dem damaligen Bundestagspräsidenten Richard Stücklen zu Kraftausdrücken hinreißen ließ wie: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“
Neusortierung der politischen Landkarte
Lammert zufolge sind die ehemals straßenkämpfenden Grünen im Parlament domestiziert worden. „Da hat euch das System mehr verändert als ihr das System“, sagte er zu Claudia Roth. Ob das auch der Weg sei, den die AfD vor sich habe? Lammert hält das für unwahrscheinlich, er prophezeite der „Alternative“ ein ähnliches Schicksal wie den Piraten: „Der Aufstieg der AfD hängt wesentlich mit Rahmenbedingungen zusammen, die ich nicht für dauerhaft halte. Wenn die Themen Migration und Europakritik für die Wähler an Bedeutung verlieren, wird die AfD verblassen.“
Prof. Dr. Sabine Kropp von der Arbeitsstelle Politisches System der Bundesrepublik Deutschland an der Freien Universität. Sabine Kropp hat das Debattenformat mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Thorsten Faas konzipiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp sah bei allen Unterschieden zwischen den Grünen und der AfD auch Ähnlichkeiten: Beide Parteien hätten in ihrer Anfangsphase Anteil an der Neusortierung des etablierten politischen Betriebs gehabt, beide hätten in einem kritischen Augenblick eine Lücke im politischen Angebot besetzen können.
In dieser „Repräsentationslücke“, so die Politikprofessorin, kann die AfD vor allem auf Zuspruch von Protestwählerinnen und -wählern hoffen, die sich ein Aufmischen des als „Parteienkartell“ wahrgenommenen Bundestags wünschen. Die Wissenschaftlerin zitierte den Politologen und Mitbegründer des Otto-Suhr-Instituts Ernst Fraenkel, der von der Notwendigkeit einer öffentlichen „Inszenierung von Konflikten“ gesprochen hat – dies habe allerdings auf der Grundlage eines „nicht-kontroversen Sektors“ demokratischer Spielregeln zu erfolgen.
Claudia Roth lehnte die These von der Protestwählerschaft ab. Man könne von AfD-Wählern durchaus erwarten, dass sie wüssten, für wen sie stimmten. Sie forderte eine intensivere Auseinandersetzung mit dem tief in der deutschen Gesellschaft verankerten Rassismus.
Heimatlose Wähler zurückholen
Wie schwer es ist, den richtigen Umgang mit einer rechtspopulistischen Partei zu finden, zeigte die Diskussion, in die sich am Ende auch Zuhörerinnen und Zuhörer einbrachten.
Weder ein Aussitzen des AfD-Erfolgs, argumentierte Sabine Kropp, noch Ausgrenzungsstrategien gegen die neue Formation seien in der politischen Auseinandersetzung hilfreich. Es helfe auch nicht, AfD-Positionen einfach zu übernehmen, wie die Landtagswahl in Bayern gezeigt habe. Die Politikwissenschaftlerin hält klare Grenzen für notwendig und die Stärkung der eigenen Position.
Mit der Frage, wie die rund 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die derzeit ihre Stimme der AfD geben, in den Kreis der Demokraten zurückgeholt werden könnten, wandte sich Kropp zum Ende des Abends an die Bundestagsvizepräsidentin und den ehemaligen Bundestagspräsidenten.
Das Thema und die prominente Besetzung des Podiums zogen zahlreiche Interessierte in den Henry-Ford-Bau.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Der fehlende politische Wettbewerb in der großen Koalition, dieses unerlässliche Quäntchen Streit, habe die AfD überhaupt erst groß gemacht, sagte Lammert. Seiner Ansicht nach müssten gerade zwischen den Volksparteien CDU und SPD Diskrepanzen nicht unter dem Deckel gehalten, sondern im Gegenteil markanter herauspräpariert werden.
Wie man den konstruktiven Streit zurück in den Bundestag bringen könnte? Norbert Lammerts Antwort: Indem die „Dauerehe“ von CDU und SPD „schleunigst“ beendet werde. „Beide Parteien müssen endlich begreifen, dass die Große Koalition vor allem ihnen selbst schadet.“
„Nehmen Sie das Grundnahrungsmittel Wahlrecht an!“
Claudia Roth richtete einen flammenden Appell an die im Publikum stark vertretene junge Generation. Ihre Aufgabe sei es, die Demokratie zu verteidigen: „Jeder von Ihnen ist verantwortlich für diese Demokratie. Wir sind die Mehrheit – aber die muss sich auch in Bewegung setzen!“, rief sie dem Publikum zu. Und sagte auch gleich, wie das gelingen kann: „Nehmen Sie das Grundnahrungsmittel Wahlrecht an!“