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Studierendengeschichte der Freien Universität Berlin nach 1968

Für eine zeitgemäße Geschichte der Universität nennt Schwinges (2019) vier Hauptarbeitsbereiche. Einer davon ist die Studierendengeschichte. Neuere Ansätze heben nicht mehr auf Verbindungstraditionen ab, sondern stellen in Bezug zur Neuen Kulturgeschichte soziale und kulturelle Praktiken ins Zentrum (zur Praxeologie Reichardt 2007). Jedoch blieb die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (insbesondere für Westdeutschland) aus dieser Betrachtung bisher weitgehend ausgespart. Die Ausnahmen stellen die Nachkriegszeit und die Studierendenrevolte um 1968 dar, wo Studierende als geschichtsmäßiger Faktor unmittelbar in die Politik eingriffen (Stickler 2001). Nicht nur Korporationen verlieren infolge an Einfluss, auch die nach 1945 entstandenen politischen Verbände treten zu Gunsten von Klein- und Kleinstgruppen zurück.

Auch an der FU stehen Studierende bislang vor allem im Kontext der Universitätsgründung als auch der ‚Studentenbewegung‘ um 1968 im Fokus institutionsgeschichtlicher Darstellungen. In diesen wird die größte Statusgruppe der Universität hinsichtlich ihrer Demokratisierungsbestrebungen für die Hochschulstruktur und -praxis untersucht und bildet, nicht selten im Widerstreit mit professoralen Mitgliedern, einen zentralen Bezugspunkt der universitären Konflikt- und Krisengeschichte. Dabei generieren solcherart Narrative ein oft homogen anmutendes Bild einer politisierten Studierendenschaft, deren Radikalisierung gerne auch als ein Umschlagen ins Extreme erzählt wird. Der Forschungsschwerpunkt zur Studierendengeschichte widmet sich demgegenüber vor dem Hintergrund einer fortschreitenden politischen Fraktionierung einer differenzierten Betrachtung der Studierenden und des Studierens an der FU seit den 1970er-Jahren. Dadurch sollen bisherige Pauschalisierungen von einer Studierendenschaft einer kritischen Revision unterzogen werden. So rückt ein Studieren in den Blick, das andere Akteur:innen, Materialien, Medien und Verhaltensweisen umfasst, die zwar immer als Teil eines Studienalltags sind, diesen mitunter aber auch stören und unterbrechen. Diesen Mikrokosmen und dem Eigen-Sinn (Lüdtke) der Studierenden gilt es in diesem Forschungsschwerpunkt nachzuspüren.

 

Zitierte Literatur

Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Neuauflage, Münster 2015 [1993].

Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts Nr. 22.3 (2007), S. 43–65.

Schwinges, Rainer Christoph: Universitätsgeschichte: Bemerkungen zu Stand und Tendenzen der Forschung (vornehmlich im deutschsprachigen Raum), in: Livia Prüll/Christian George/Frank Hüther (Hgg.): Universitätsgeschichte schreiben. Inhalte – Methoden – Fallbeispiele, 2019, S. 25–45.

Stickler, Matthias: Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht über ein bisweilen unterschätztes Arbeitsfeld der Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte Nr. 4 (2001), S. 262–270.

 

Kontakt:

Lisa-Frederike Seidler

Janik Hollnagel