Topoi
Neue Forschung über die alte Welt
„Zur Beschäftigung der Philosophen gehört auch die Geografie“, schrieb Strabon (ca. 65 v. Chr. bis 23 n. Chr.) im ersten Satz seines 17-bändigen Werkes über die Geografie der alten Welt. Der Autor, selbst Geograf, der etwa um die Zeitenwende schrieb, brachte damit zwei Disziplinen zusammen, die in der modernen akademischen Landschaft zu vollkommen verschiedenen Bereichen gehören. Das fundamentale Verständnis darüber, wie Raum und das Wissen darüber untrennbar voneinander abhängen, wie der Raum selbst das Denken über ihn beeinflusst und das wiederum die Gestaltung des Raumes, ging verloren.
„Topoi – The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations“, Ende 2007 in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder als Exzellenzcluster ausgezeichnet, ist angetreten, um im Sinne Strabons die Diziplinen wieder zusammenzuführen. Mit einer Förderung in Höhe von jährlich fünf Millionen Euro für neue Professuren, Stipendien, Fellowships, Forschungssemester sowie die wissenschaftliche Nachwuchsförderung in studentischen Projekten und Graduiertengruppen soll die Altertumsforschung revolutioniert werden. Am Ende des Projekts 2012 werden die Ergebnisse unter anderem in einer großen Ausstellung in Berlin präsentiert. Aber das ist nicht das Ende der innovativen Altertumsforschung in Berlin. „Topoi“ hat sich vorgenommen, nicht nur das Wissen über das Wissen und den Raum in der Antike zu verändern, sondern auch die Berliner Wissenschaftslandschaft. Die langfristige Perspektive ist ein „Gewächshaus für die Orchideenfächer“, das „Berliner Antikekolleg“.
„Das Spektrum der beteiligten Fächer reicht von der Archäologie und Geschichtswissenschaft bis zur Philologie und Philosophie und revitalisiert so nicht nur die Art der interdisziplinären Arbeit aus der Hochzeit der deutschen Altertumswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, sagt Friederike Fless vom Institut für Klassische Archäologie, Projektsprecherin für die Freie Universität. „Wir integrieren auch völlig neue, naturwissenschaftliche Disziplinen in die Erforschung alter Kulturen.“
Man stellt Fragen, die mitunter erst auf den zweiten Blick als Altertumsforschung zu erkennen sind: Wie wirkt der Mensch auf das Ökosystem? Was ist eine Grenze? Wie stellen wir uns unseren Körper und unsere Seele vor? Und man stellt Fragen nach der Herkunft unserer Begriffe, die ohne Bezug auf den „Raum“ nicht auskommen.
„Um die Struktur von Wissen zu beschreiben, werden in der Regel räumliche Beziehungen herangezogen“, erklärt der Philosoph Christof Rapp, Projektsprecher für die Humboldt-Universität. „Wenn von der Unter- und Überordnung von Begriffen, ihrer Vernetzung oder Begrenzung gesprochen wird, ist das keine oberflächliche Metaphorik, sondern der Raum bildet das umfassende Ordnungssystem, innerhalb dessen kognitive Gehalte aufeinander bezogen sind.“
Der alte Orient, das Mittelmeer, die Schwarzmeerregion und Teile der eurasischen Steppe sind die geografischen Ziele des forschenden Geistes, der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom sechsten vorchristlichen Jahrtausend bis etwa in das Jahr 500 nach der Zeitenwende.
In Berlin steht das Projekt auf besonders sicherem Grund. Denn nirgends sind die wissenschaftlichen Kapazitäten zur Erforschung der Antike in so hoher Konzentration vorhanden wie hier. Und „Topoi“ nutzt sie. Beteiligt sind Freie Universität und Humboldt-Universität, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, das Deutsche Archäologische Institut, das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, aber auch mit kleineren Anteilen die Technische Universität und die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft.
„Topoi“ ist in fünf „Research Areas“ gegliedert, miteinander verbunden durch Querschnittgruppen. Der Forschungsbereich A befasst sich mit der räumlichen Umgebung und ihrer Anlage in Gedanken: Was tut der Mensch mit seiner Umwelt, was sie mit ihm? Nicht nur technische, sondern auch soziale Veränderungen haben Auswirkungen auf die Gestaltung der Umwelt, und die Forscherinnen und Forscher wollen die räumliche Umwelt und ihre Formung durch Menschen und umgekehrt die menschliche Anpassung an die räumliche Umgebung rekonstruieren. Der Mittelmeerraum, der alte Vordere Orient, die Schwarzmeerregion und Teile der Eurasischen Steppe sind die Untersuchungsräume, Siedlungen, Städte, Paläste und Sanktuarien – Stellen, die Gegenstand früherer und laufender archäologischer Arbeit waren oder sind. Ortwin Dally vom Deutschen Archäologischen Institut und Katja Moede vom Institut für Klassische Archäologie der Freien Universität zeigen, wie sich der Mensch bei der Gestaltung zwischen Natur und Kultur bewegt und welche Überraschungen die Forschung bisweilen bereithält.
„Der soziale Raum und die Kontrollmechanismen“ sind das Thema des Forschungsbereichs B. Soziale Mechanismen der Kontrolle konstituieren Räume und sprechen ihnen unterschiedliche Bedeutung zu. Orte werden „heilig“ gesprochen, Herrschaften grenzen Territorien gegeneinander ab. Es wird markiert, definiert und differenziert. „Die Verständigung über den Raum ist ein latentes gesellschaftliches Anliegen, Teil des bereits Jahrtausende währenden Globalisierungprozesses und so alt wie die Menschheit selbst“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum, die die Grundzüge des Forschungsbereichs B vorstellt; Christiane Zimmermann vom Institut für Evangelische Theologie der Humboldt-Universität erläutert die Thematik anhand des Beispiels der Verräumlichung des frühen Christentums.
Raum ist für den Menschen nicht einfach da – er wird erfahren und in gedanklicher Form gespiegelt. Erst dadurch werden Räumlichkeit und Orientierung im Raum der Begriffswelt des Menschen verfügbar. In dieser begrifflichen Gestalt wird Raum auch zu einem Instrument des Denkens: Abstrakte und komplexe Sachverhalte werden als Raum vorstellbar. Dieser kognitive Doppelcharakter von Raum und Räumlichkeit – die Vorstellung vom Raum und Räumen und die Vorstellung durch Räumlichkeit und Verräumlichung – steht im Mittelpunkt des Forschungsbereichs „Perzeption und Repräsentation von Raum“. Im Dreischritt von Wahrnehmung, Vorstellung und Handlung wird der Zusammenhang von Raum und Wissen in seinem Kern in den Blick gefasst. Die Forschung kann hier nur interdisziplinär arbeiten – mit Linguistik, Philologie, Archäologie, Kulturanthropologie – und dem breit angelegten Vergleich unterschiedlicher Kulturen im Verlauf ihrer historischen Entfaltung. Stefan Seidlmayer vom Institut für Ägyptologie stellt vor, wie die Forscher auf der Basis archäologischer Funde, mittels Text und Bild rekonstruieren, wie man Raum gesehen und benannt hat, wie man ihn abbildete, aber auch, wie man sich in ihm bewegt hat.
Der forschende Blick in die unendlichen Weiten des Weltraums, die Frage, wie es jenseits der Grenzen unseren eigenen Kosmos aussehen mag, die Frage gar, ob unser Kosmos der einzige sei, sind nicht etwa Fragen der Neuzeit. Bereits im 6. vorchristlichen Jahrhundert findet man Zeugnisse systematisch-wissenschaftlicher Beschäftigung mit derlei Phänomenen. Research Area D untersucht antike Theorien über den Raum sowie antike Wissenschaften, die den Raum direkt oder indirekt zum Gegenstand haben. Im Mittelpunkt der Forschung stehen antike Kosmologie und Physik. Aber es werden auch die metaphysischen Theorien über die Beschaffenheit der Seele, der wiederum ein bestimmter „Ort“ zugewiesen war, untersucht, wie uns Dominik Perler vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität erläutert.
Auch der Forschungsbereich E, der mit allen anderen Bereichen quer verbunden ist, und der untersucht, wie man „Raum“ seit der Antike „behandelt“ hat, zeigt unter anderem, dass viele unserer Begriffe, die wir quasi für naturgegeben halten, eine sehr lange Geschichte haben und bis in die heutige Zeit fortwirken. Matthias Schemmel vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte erläutert dies anhand des Begriffs des Abstands und Bénédicte Savoy von der Technischen Universität stellt das Projekt vor, in dessen Arbeit die Ergebnisse aus allen anderen Forschungsbereichen einfließen. Hier befasst man sich mit der Präsentation der neuen Erkenntnisse über die alte Welt: mit ihrem Auftritt im Museum in Vergangenheit, Gegenwart und in der Zukunft – sei es als „Antike auf Tischhöhe“, sei es als 1 : 1-Rekonstruktion antiker Monumentalarchitektur, sei es als virtual reality, in der Troja in 13 Minuten versandet.
In unserem Interview erläutert schließlich Friederike Fless die Philosophie des Ganzen.