Springe direkt zu Inhalt

Der Raum als Begriff und Ausstellungsstück

Der richtige Abstand

Matthias Schemmel ist Leiter der gemeinsamen Nachwuchsgruppe „Historische Epistemologie des Raumes“ der Humboldt-Universität und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte

Matthias Schemmel ist Leiter der gemeinsamen Nachwuchsgruppe „Historische Epistemologie des Raumes“ der Humboldt-Universität und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte

thumbnail_schemmel

thumbnail_schemmel

Die fundamentalen Strukturen unserer Erkenntnis sind in der Geschichte der Philosophie häufig als zeitlos und universell betrachtet worden. Dies trifft insbesondere auf grundlegende Strukturen unseres räumlichen Wissens zu. Tatsächlich haben diese Strukturen aber eine Entstehungsgeschichte, die in die Frühzeit des Menschen zurückreicht, und sind im Kontext der modernen Wissenschaft einem fundamentalen Wandel unterworfen, der bis heute fortdauert. Um diese langfristigen Transformationen des räumlichen Wissens verstehen zu können, müssen verschiedene Wissensformen wie intuitives, praktisches und wissenschaftliches Wissen, als zusammenhängende und sich gegenseitig bedingende Teile eines umfassenden Wissenssystems verstanden werden.

Betrachten wir als Beispiel den Begriff des Abstands, der so elementar erscheint, dass man meinen könnte, er stünde außerhalb der Geschichte. Tatsächlich zeigen entwicklungspsychologische Studien, dass bereits sehr junge Kinder eine Vorstellung vom Abstand zwischen zwei Objekten entwickeln. Allerdings stimmt dieser kindliche Abstandsbegriff nicht mit dem der Erwachsenen überein: So halten fünfjährige Kinder in der Regel zwei Gegenstände, die vor ihnen auf dem Tisch platziert werden, für näher beieinanderstehend, wenn ein Hindernis zwischen ihnen liegt.

Der konkrete Abstand

Bildet sich im weiteren Aufwachsen derKinder nun zwangsläufig der uns bekannte Abstandsbegriff heraus? Ethnologische und ethno-linguistische Studien legen nahe, dass die Entwicklung des Abstandsbegriffs vom kulturellen Umfeld abhängt. Die Eipo in West-Neuguinea, zum Beispiel, haben keinen abstrakten Terminus für „Abstand“. Dennoch sind die Maße ihrer Bauten durch ihre Tradition festgeschrieben: Sie sind implizit in den kollektiven Handlungen gegeben.

So ist beim Bau eines sakralen Männerhauses der Umfang des Hauses durch die Anzahl der Beteiligten, die sich mit je einem Pfosten in einem Kreis aufstellen, und durch die Breite der Rindenrollen, die als Bodenbelag dienen aber auch zur Bestimmung der Abstände zwischen zwei Pfosten verwendet werden, festgelegt. Große Abstände, wie solche zwischen verschiedenen Siedlungen, werden in Tagesmärschen angegeben und verlieren außerhalb des Erfahrungsbereichs solcher Märsche jeglichen Sinn.

Abstrakte Abstände

Die Eipo besitzen keinen Längenbegriff, der beide Größen – den Umfang eines Hauses un den Abstand zwischen zwei Dörfern – aufeinander beziehen würde. Solche integrierten Längen- und Abstandsbegriffe sind im Kontext der Staatsbürokratien der frühen Hochkulturen entstanden.

In Mesopotamien besispielsweise ist spätestens gegen Ende des dritten vorchristlichen Jahrtausends ein integriertes System aller Längenmaße entstanden. In diesem System entspricht die Strecke, die man in einer Doppelstunde läuft (1 dana), genau 21.600 Ellen (kùš) oder 648.000 Gerstenkörnern (še), eine abstrakte Beziehung jenseits praktischer Problemstellungen.

In der griechischen Antike entstand dann ein ganz neuer, abstrakter Abstandsbegriff, der nicht mehr durch das Messen, sondern durch Axiome implizit definiert ist. Im ersten Axiom der Elemente des Euklid heißt es beispielsweise mit Bezug auf messbare Größen: „Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.“ Die Elemente wurden zu einem Paradigma deduktiver Argumentation – der Zurückführung aller Aussagen auf eine kleine Anzahl für evident gehaltener Sätze – mit weitreichenden Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Abstandsbegriffes.

Vom absoluten zum relativistischen Raum

In der frühen Neuzeit, als die euklidische Geometrie auf den newtonschen dreidimensionalen, absoluten Raum angewendet wurde, erschien das euklidische Abstandsmaß als eine dem Menschen vorgegebene Wissensstruktur, die durch keine Erfahrung verändert werden kann. Kants Begriff vom Raum als a priori gegebener, reiner Anschauungsform ist der wohl bekannteste Ausdruck einer solchen erkenntnistheoretischen Sichtweise. Zugleich wurde die deduktive Form der euklidischen Geometrie zur Voraussetzung für die Entdeckung der Möglichkeit nicht-euklidischer Geometrien. Diese Entdeckung wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Mathematikern unabhängig voneinander gemacht und warf sogleich die Frage auf, ob derartige Geometrien für die Beschreibung des physikalischen Raumes eine Rolle spielen könnten.

Diese Frage wurde durch die relativistische Physik und Kosmologie des zwanzigsten Jahrhunderts positiv beantwortet. Eine Konsequenz dieser Entwicklung besteht darin, dass ein einheitliches, von den Operationen der Abstandsbestimmung unabhängiges Abstandsmaß auf kosmologischen Skalen nicht mehr existiert.

Von Matthias Schemmel

Nicht-euklidische Räume

Die ebene Fläche (li) entspricht dem euklidischen Raum: Dreiecke haben hier eine Winkelsumme von 180°. Sphärische Räume kann man mithilfe einer Kugeloberfläche veranschaulichen (mi): Die Winkelsumme eines Dreiecks ist hier immer größer als 180°. Hyperbolische Räume können mithilfe einer Sattelfläche dargestellt werden (re): Hier ist die Winkelsumme eines Dreiecks immer kleiner als 180°.