Erstmals Fotografien von NS-Deportation aus Hamburg entdeckt
Die Aufnahmen waren bislang fehlerhaft als Evakuierungsfotos interpretiert worden
25.10.2025
Am 25. Oktober 1941 wurden mehr als 1.000 jüdische Hamburgerinnen und Hamburger ins Ghetto Litzmannstadt deportiert. Bekannte fotografische Dokumente darüber gab es bislang nicht. Nun ist es Forschenden der Freien Universität Berlin und der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte gelungen, drei Fotografien dieser Deportation zu identifizieren.
Die Aufnahmen zeigen die Ankunft der verfolgten Menschen an der Sammelstelle und den Abtransport mit Mannschaftswagen zum Hannoverschen Bahnhof – dem Ausgangspunkt für Deportationen während der NS-Zeit. Die Forschenden hoffen nun auch auf Hinweise aus der Bevölkerung, um die abgebildeten Personen identifizieren zu können.
Der relevante Fund gelang in Zusammenarbeit zwischen Historiker*innen des Projekts Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und des Verbundprojekts #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg an der Freien Universität Berlin. Die drei identifizierten Fotografien ermöglichen neue Perspektiven auf die Deportation durch den NS-Staat im Herbst 1941.
Die Fotos stammen aus einem Fotoalbum von Bernhardt Colberg, einem Mitglied des Reserve-Polizeibataillons 101 – also der militärischen Einheit der Ordnungspolizei in Hamburg während des Nationalsozialismus. Das Album wird heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. verwahrt. Bislang waren die abgebildeten Personen der Aufnahmen als „Opfer der alliierten Luftangriffe vor ihrer Evakuierung“ bezeichnet worden. Diese Interpretation konnte durch fachwissenschaftliche Expertise und einen intensiven Prozess der Validierung nun widerlegt werden.
Die Forschenden der Freien Universität Berlin und des Projekts Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof wiesen nach, dass die Fotos stattdessen den Ablauf der nationalsozialistischen Deportation an der Sammelstelle Logenhaus in der Moorweidenstraße in der Hansestadt zeigen. Die verfolgten jüdischen Hamburgerinnen und Hamburger mussten sich vor 84 Jahren, am 24. Oktober 1941, mit ihrem wenigen zugelassenen Gepäck im Logenhaus einfinden. Dort fanden eine entwürdigende Durchsuchung und Beraubung der Menschen durch Gestapo- und NS-Finanzbeamte statt. Nach einer Nacht in großer Enge und unter katastrophalen Umständen wurden die Frauen, Kinder und Männer am Morgen des 25. Oktober 1941 mit Mannschaftswagen der Polizei zum Hannoverschen Bahnhof – dem zentralen Ausgangspunkt in Hamburg für NS-Deportationen – gebracht und von dort aus ins Ghetto Litzmannstadt verschleppt.
Zwischen 1940 und 1945 wurden insgesamt mehr als 8.000 Jüdinnen und Juden sowie Sinti*zze und Rom*nja aus Hamburg und Norddeutschland in Zwangsarbeiterlager, Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager ins deutsch besetzte östliche Europa deportiert. Heute erinnert ein Gedenkort an die Opfer, die von hier aus verschleppt wurden.
Dr. Alina Bothe, Historikerin und Projektleiterin des Projekts „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“ an der Freien Universität Berlin betont: „Für mich war aus der Expertise unseres Projekts auf den ersten Blick eindeutig, dass es sich um Fotografien einer Deportation handelt. Der aufwändige Prozess wissenschaftlicher Validierung, an dem zahlreiche Kolleg*innen dankenswerterweise mitgewirkt haben, hat diesen ersten Eindruck bestätigt.“
Dr. Kristina Vagt, vom Projekt Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof / Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte erklärt: „In unserem Projekt haben wir lange nach solchen Bildern Ausschau gehalten, denn bisher ließen sich die Ereignisse an der Sammelstelle in der Moorweidenstraße nur aus mündlichen und schriftlichen Erinnerungsberichten und Prozessaussagen der Täter rekonstruieren. Gerade in Ausstellungen haben Fotos eine wichtige Bedeutung als historische Quellen. Sie zeigen, dass das Unrecht am Tag und mitten im Stadtraum stattfanden. Durch die Veröffentlichung der drei Fotos vom 25. Oktober 1941 erhoffen wir uns Hinweise durch die Öffentlichkeit auf die abgebildeten Opfer, aber auch Polizisten und Gestapo-Beamte.“
Wolfgang Kopitzsch, Polizeipräsident in Hamburg a.D., und Historiker erläutert: „Das Reserve-Polizeibataillon 101 ist aufgrund zahlreicher Verbrechen, der Beteiligung an Deportationen und Massenmorden, besonders berüchtigt. Die Fotos sind durch Colberg auf den Oktober 1941 datiert, es gibt keinen Grund an dieser Datierung zu zweifeln. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine nennenswerten Luftangriffe auf Hamburg, es sind also keine Aufnahmen einer Evakuierung von nichtjüdischen Hamburgern. Auf den Bildern sehen wir ein in Hamburg verübtes Verbrechen des PB 101.“
Weitere Informationen
- Die Fotos sind online in dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten Bildatlas von #LastSeen aufgenommen, vorgestellt und wissenschaftlich kritisch kommentiert: https://atlas.lastseen.org
https://atlas.lastseen.org/image/hamburg/496
https://atlas.lastseen.org/image/hamburg/497
https://atlas.lastseen.org/image/hamburg/498
- Die Fotos werden in einer Pop-Up-Ausstellung vom 4. November 2025 bis 6. Januar 2026 im Geschichtsort Stadthaus gezeigt: Stadthausbrücke 6, 20355 Hamburg, Öffnungszeiten: Montag bis Samstag, 10-17 Uhr
- Dr. Alina Bothe, Dr. Kristina Vagt, Johanna Schmied und Wolfgang Kopitzsch stellen die Fotos und die Ergebnisse der Untersuchung in einem Vortrag vor, der auch online gestreamt wird:
„Nahaufnahme: Die Hamburger Deportationen in die Ghettos im Herbst 1941“
Dienstag, 4. November 2025, 18.30-20 Uhr, Ort: Geschichtsort Stadthaus, Stadthausbrücke 6, 20355 Hamburg
- Die historischen Aufnahmen stehen auf der Webseite des USHMM zum Download bereit :
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1134258
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1134257
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1134255
Kontakt für Medienanfragen
- Dr. Alina Bothe, Freie Universität Berlin, Selma-Stern-Zentrum, Projektleiterin #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen, Tel. 0 30 / 83 86 32 74, E-Mail: alina.bothe@fu-berlin.de
- Dr. Iris Groschek Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, Tel. 0 40 / 428 131 521, E-Mail: iris.groschek@gedenkstaetten.hamburg.de
