Zwischen Panik und Plan
Studie untersucht Fluchtentscheidungen ukrainischer Geflüchteter
Nr. 199/2025 vom 01.12.2025
Flucht und Vertreibung entwickeln sich zu einer Kernherausforderung des 21. Jahrhunderts. Umso wichtiger wird es zu verstehen, wie sich Menschen vor und während ihrer Flucht entscheiden. Eine neue Studie der Soziologin Céline Teney von der Freien Universität Berlin zu geflüchteten Ukrainer*innen zeigt: die wahrgenommene Handlungsfähigkeit Geflüchteter hat Auswirkungen auf den Verlauf der Flucht. Außerdem beeinflussen soziale Kontakte den Fluchtzeitpunkt und -zielort. Die Studie „Applying Classical Migration Theories to Forced Displacement: The Case of Displaced Ukrainians in Berlin, Warsaw, and Budapest“ ist gerade in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienen und online abrufbar.
Die Soziologin Céline Teney von der Freien Universität Berlin hat Fluchtentscheidungen von Ukrainer*innen untersucht.
Bildquelle: Kateryna Chornenka
Zu welchem Zeitpunkt Menschen ihre Heimat im Krieg verlassen, welches Ziel sie ansteuern und ob sie dort oder woanders ankommen – all das hängt von einer ganzen Reihe von Triebfedern ab: Bin ich unmittelbar bedroht oder noch vergleichsweise sicher? Muss ich gebrechliche Eltern zurücklassen? Was erwartet mich und gegebenenfalls meine Kinder? Die Soziologie spricht von „Push-und-Pull-Faktoren“. Push steht für die Fluchtanlässe, Pull für die Attraktivität des Zielortes.
Laut Professor Dr. Céline Teney ist ein wesentlicher Faktor bei der Analyse von „Push-und-Pull-Faktoren“ bisher in der Wissenschaft zu kurz gekommen: der wahrgenommene eigene Handlungs- und Entscheidungsspielraum von Geflüchteten. „Wer sich unter den Bedingungen eines Krieges in der Lage sieht, autonom und bewusst zu agieren, entscheidet anders als jemand, der sich als machtlos begreift“, betont die Soziologin. Das belege die Auswertung von Interviews mit 255 Ukrainer*innen, die während der Invasion russischer Truppen 2022 nach Berlin, Warschau oder Budapest geflohen sind.
Menschen, die die russische Invasion aus nächster Nähe erlebt haben, erinnern sich an ihre Flucht und die Auswahl des Fluchtorts oft als hastig und alternativlos. Diese Befragten nennen als Pull-Faktor vor allem die körperliche Unversehrtheit. Dahingegen schätzen Geflüchtete, die geographisch weiter von der Front entfernt gelebt haben, ihren Handlungsspielraum als größer ein. Zu den Pull-Faktoren zählen sie neben der physischen auch die psychische Sicherheit, Unterstützungsangebote und Jobperspektiven. Außerdem geben die Befragten an, mehrere Fluchtziele in Betracht gezogen zu haben, unter anderem auch Nordamerika und Israel.
Die Studie unterstreicht außerdem die Rolle von sozialen Kontakten bei Fluchtentscheidungen. Während nahe Verwandte oft den Anstoß zur Flucht gegeben haben, hätten entferntere Bekannte beeinflusst, wohin Ukrainer*innen fliehen.
In ihrer Studie hat Céline Teney ein theoretisches Modell entwickelt, dass die Entscheidungsprozesse ukrainischer Geflüchteter erfasst. Die Soziologin spricht sich für die Relevanz klassischer Migrationstheorien aus, um Fluchtbewegungen zu verstehen. (km)
Weitere Informationen
- Die Studie: „Applying Classical Migration Theories to Forced Displacement: The Case of Displaced Ukrainians in Berlin, Warsaw, and Budapest“ ist in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“erschienen und online abrufbar
Kontakt
- Prof. Dr. Céline Teney, Freie Universität Berlin, Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften, Institut für Soziologie, Arbeitsbereich Makrosoziologie, E-Mail: celine.teney@fu-berlin.de

