Reise zu den Ursprüngen meiner Familie
In ihrer letzten Post aus Ljubljana begibt sich Sonja Poschenrieder auf die Suche nach ihren Wurzeln: Die Familiengeschichten ihrer Groß- und Urgroßeltern führten sie ins heutige Serbien
17.03.2020
Resi, meine Oma mütterlicherseits, stammt aus Prigrevica, einem ehemaligen deutschen Dorf nahe Sombor, und Seppi, mein Uropa väterlicherseits, kommt ursprünglich aus der Stadt Kikinda, nur 140 km von Prigrevica entfernt. Beide Orte liegen heute in Serbien. Oma Resi und Uropa Seppi gehörten einer deutschen Minderheit an, den sogenannten Donauschwaben, die im 18. Jahrhundert dem Ruf der habsburgischen Kaiserin Maria Theresia gefolgt waren mit dem Ziel, die Wojwodina-Region zu besiedeln. Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie von dort vertrieben worden.
Meine Oma Resi war drei Jahre alt, als sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter aus Angst vor Vergeltungstaten von Partisanen aus ihrer Heimat fliehen musste. Mit sechs Jahren kam sie nach Stationen in Lagern in Serbien und einem Bauernhof in Österreich in ein Lager nach Sonthofen im Allgäu. Schließlich wurde die Familie auf einem Bauernhof im Allgäu untergebracht, die letzten 30 Kilometer dorthin mussten sie laufen, erinnert sich meine Oma.
Ähnlich erging es meinem Uropa Seppi aus Kikinda. Während er selbst zur Zeit der Vertreibungen als deutscher Soldat in Italien stationiert war, weigerten sich seine Eltern zunächst, die Stadt zu verlassen. Erst als 1944 mein Ururopa Stefan auf dem Schlachthof von Kikinda von Partisanen erschossen wurde, machte sich seine Frau mit den Kindern auf den Weg. Dieser führte sie über Ungarn und Wien bis ins tschechische Budweis und nach Prag, zuletzt nach Wangen im Allgäu. Diese Geschichten kenne ich aus den Erzählungen meiner Oma Helga, der Tochter von Uropa Seppi, und aus dem Tagebuch seiner Cousine Marie Weiß, die dort von ihrer Vertreibung berichtet.
1978 kehrten meine Großeltern Resi und Rudi nach Serbien zurück, um zu sehen, was von den Erinnerungen übriggeblieben war. 42 Jahre später besuche ich, ihre Enkelin, die Heimat meiner Oma und meines Uropas. Flucht und Vertreibung sind auch heute noch gegenwärtig in Serbien. Ich reise gemeinsam mit Cassie, einer deutschen Kommilitonin, die ich in Ljubljana kennengelernt habe. Bereits an unserem ersten Reisetag, im Zug von Ljubljana nach Belgrad, beobachten wir, wie an der kroatischen Grenze eine Gruppe geflüchteter Menschen zusteigt und zurück nach Belgrad gebracht wird.
Ich bin besonders sensibel für dieses Thema, seitdem ich in Ljubljana während meines Praktikums in der Slovenska Filantropija mit Menschen mit Fluchthintergrund gearbeitet habe. In Belgrad schlafen wir auf einem Hausboot auf der Donau. Um den Fluss passieren zu dürfen, musste die Familie meiner Oma Resi damals ihren gesamten Schmuck eintauschen.
Danach fahren wir nach Kikinda, dort nimmt uns ein serbischer Couchsurfer auf. Der 69-Jährige erinnert sich daran, dass seine Mutter noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg um eine deutsche Freundin getrauert hat, die aus ihrer Heimat fliehen musste. Wir laufen über den Korso, auf dem sich zu Uropas Zeiten junge Leute getroffen haben, und besuchen das Schwimmbad, in dem auch meine Oma Helga bei ihrem Besuch vor 55 Jahren gebadet hat.
Während wir in Slowenien stets gut mit Englisch durchkamen, ist die Verständigung in Serbien deutlich schwieriger. Nur einmal unterhalten wir uns lange auf Deutsch mit einer Frau, die Burek verkauft, ein Blätterteiggebäck mit Käse-Schinken-Kartoffel- oder Apfelfüllung.
In Sombor kaufen wir auf dem Bauernmarkt frisches Gemüse und Ajvar, einen typisch jugoslawischen Paprika-Aufstrich. Ältere Frauen sitzen Socken strickend an ihrem Stand und erinnern mich mit ihren Kopftüchern und Knollennasen an meine Großmutter. Doch außer den mir erzählten Erinnerungen finde ich hier kaum Zeichen aus der Vergangenheit meiner Ahnen, weder auf Friedhöfen noch auf dem Stadtplatz. Wenigstens scheint die Feindseligkeit längst verflogen: Kinder lernen Deutsch in der Schule, und viele Menschen pendeln nach Deutschland, um dort das Vielfache des örtlichen Gehalts zu verdienen. Das war auch einmal der Plan der Burek-Verkäuferin.
Es ist schwieriger als gedacht, die Straßen und Orte zu finden, die ich aus den Erzählungen meiner Großeltern kenne. Ich habe lediglich einen alten deutschen Stadtplan, heute haben die Straßen serbische Namen und sind teilweise in kyrillischer Schrift geschrieben. An der Stelle des Hauses, in dem mein Uropa aufgewachsen ist, steht heute eine Bäckerei, die von einer freundlichen Familie aus dem Kosovo betrieben wird. Wieder eine Geschichte von Vertreibung.
Auf der Rückreise nach Slowenien werden wir erneut Zeuginnen der strengen Grenzkontrollen an den EU-Rändern. Lastwagen stauen sich auf der Autobahn, Menschen laufen entlang der Leitplanke zurück nach Serbien. Wir müssen den Bus viermal für Passkontrollen verlassen, bevor wir wieder in Slowenien sind. Ich werde die Bilder von Menschen mit Rucksack und Schlafsack unterm Arm nicht los. Menschen, die abermals vor Krieg fliehen müssen oder vertrieben werden. Menschen, die erneut grauenhafte Schicksale durchleben. In derselben Gegend wie im Zweiten Weltkrieg, und auch heute gibt es wieder Geflüchteten-Lager, die die dort Festgehaltenen nicht verlassen dürfen. Wann hört das auf?
Am Ende meines Erasmusaufenthalts besuchen mich meine Großeltern, Oma Resi und Opa Rudi, in Ljubljana. Ich zeige ihnen die Orte, die dort für mich wichtig waren: meine Wohnung, die Slovenska Filantropija, wo ich das Praktikum gemacht habe, die Restaurants, die ich besucht habe. Wir sprechen über vergangene Zeiten. So schließt sich der Kreis meiner Ahnensuche, damit endet mein Semester in Ljubljana.
Weitere Informationen
Das war die letzte „Post aus…Ljubljana“ von Sonja Poschenrieder! Sie war eine von elf Autorinnen und Autoren, die von ihren Auslandsstudienaufenthalten für campus.leben berichten bzw. berichtet haben.
Hier lesen Sie die früheren beiden Artikel aus Slowenien. Sie sind auch auf Englisch verfügbar.