Mehr Lust auf Lehramt
07.05.2025
Erfrischend offen: Schülerinnen im Gespräch mit Fachleuten aus Universität und Schule.
Bildquelle: Magnus John
Der Lehrkräftemangel an Schulen ist auch ein wichtiges Thema für die Universitäten. Wo steht die Freie Universität in der Qualifizierung von Lehrkräften von morgen?
Lehrkräftebildung ist für die Freie Universität Berlin eine Kernaufgabe – mit unmittelbarer Bedeutung für die Zukunft unserer demokratischen, diversen und digitalen Wissensgesellschaft. Die Zahl unserer Absolventinnen und Absolventen im Lehramt hat sich seit 2017 vervielfacht und ist besonders im Lehramt an Grundschulen gestiegen. Darauf sind wir stolz. Gleichzeitig beobachten wir mit Sorge, dass immer mehr Studierende im Lehramt immer länger studieren, weil sie bereits frühzeitig im Schuldienst eingesetzt werden. Diese frühe Übernahme von Verantwortung ist hoch anzuerkennen, darf aber nicht zum Ersatz für eine fundierte Ausbildung werden. Zugleich bleiben insbesondere im MINT-Bereich viele Studienplätze unbesetzt. Den Lehrkräftemangel zu beheben, heißt deshalb nicht nur: mehr ausbilden. Es heißt vor allem: gezielter, diversitätssensibler und nachhaltiger ausbilden. Genau diesem Anspruch stellt sich die Freie Universität mit Nachdruck.
Was sind die Gründe für die geringe Nachfrage an manchen Lehramtsfächern?
Die Ursachen sind komplex. Sie spiegeln veränderte Erwartungen junger Menschen ebenso wider wie den demografischen Wandel und strukturelle Herausforderungen. Viele erleben das Berufsfeld Schule zudem als wenig attraktiv und stark belastet. Eine aktuelle Studie der Universität Göttingen zur Arbeits- und Belastungssituation der Lehrkräfte in Berlin zeigt, dass viele ihren früheren Berufswunsch zunehmend in Zweifel ziehen oder sogar aussteigen. Hinzu kommen hohe Lebenshaltungskosten, ein angespannter Wohnungsmarkt und öffentliche Debatten um den Lehrkräftemangel selbst, die zusätzlich verunsichern. Wer sich dennoch für das Lehramt entscheidet, bringt meist ein hohes Verantwortungsbewusstsein mit – dieses Potenzial gilt es gezielt zu stärken. Gleichzeitig arbeiten wir daran, insbesondere weniger nachgefragte Fächer wie Physik oder Mathematik durch neue Anreize und gezielte Ansprache attraktiver zu machen. So wie eine nachhaltige Bildungspolitik MINT braucht, braucht MINT neue Impulse, um junge Menschen zu gewinnen.
Was kann die Freie Universität Berlin dann überhaupt tun, um etwas gegen den Lehrkräftemangel beizutragen?
Wir nutzen unseren Gestaltungsspielraum aktiv – auch unter herausfordernden Rahmenbedingungen. Bereits 2015 hat die Freie Universität einen Quereinstiegsmaster für MINT und Sprachen eingeführt. Damit waren wir bundesweit eine der ersten Hochschulen, die neue Wege ins Lehramtsstudium erfolgreich erprobt und etabliert hat. Derzeit planen wir darauf aufbauend einen Quereinstiegsmaster mit nur einem Fach für Studieninteressierte, die nicht die Zulassungsvoraussetzungen für unseren Quereinstiegsmaster mit zwei Fächern erfüllen. Außerdem arbeiten wir mit den anderen Universitäten und der Senatsverwaltung an einem neuen Studienmodell, das mehr Flexibilität im Master ermöglicht. Für das Projekt „FlexibeL“ haben wir gerade den Förderzuschlag der Stiftung Innovation in der Hochschullehre erhalten. Und wir investieren in gezielte Studierendengewinnung, insbesondere im MINT-Bereich. Dabei ist uns wichtig: Nur wenn zukünftige Aufwüchse im Lehramtsstudium strukturell abgesichert werden, lässt sich Qualität nachhaltig gewährleisten.
Sie haben angesprochen, dass Lehramtsstudierende inzwischen länger für ihr Studium brauchen. Was heißt das konkret?
Viele Studierende übernehmen früh Verantwortung im Schuldienst – und zahlen dafür mit längeren Studienzeiten. Dieses Jahr hat die Senatsverwaltung Daten veröffentlicht, dass berlinweit knapp 2000 Studierende an Schulen unterrichten und damit fast 1000 Vollzeitstellen fehlender Lehrkräfte ersetzen. Das bedeutet konkret, dass die Studierenden im Mittel parallel zum Vollzeitstudium im Umfang einer halben Stelle an der Schule arbeiten. Das deckt sich mit den Ergebnissen unserer eigenen Erhebungen, ist aber womöglich noch zu gering angesetzt. In unserer Studierendenbefragung von 2023 haben demnach 30 Prozent der Bachelorstudierenden und fast 50 Prozent der Masterstudierenden für das Grundschullehramt schon an Schulen gearbeitet. Die Folgen sind gravierend: Das Studium verlängert sich deutlich, Prüfungsleistungen verzögern sich, und der Bildungserfolg wird zur individuellen Belastungsfrage. Diese Entwicklung ist kein Ausdruck mangelnder Motivation der Studierenden – im Gegenteil. Es ist vielmehr Ausdruck eines strukturellen Dilemmas, in dem kurzfristige Systementlastung auf Kosten langfristiger Professionalisierung geht. Diesen Widerspruch müssen wir gemeinsam mit Politik und Bildungsträgern ernst nehmen und angehen. Denn wer die Professionalisierung des Lehrerberufs schwächt, riskiert nicht nur verlängerte Studienzeiten oder gar Studienabbrüche, sondern auch langfristig die Attraktivität des Berufs.
Neben der Studiendauer ist die sogenannte Schwundquote eine wichtige Kennzahl, um die Entwicklung der Lehrkräftebildung beurteilen und steuern zu können. Wie sehen diese Kennzahlen beim Lehramtsstudium im Vergleich zu anderen Studienfächern aus?
Trotz der genannten Herausforderungen zeigen unsere Daten ein erfreulich stabiles Bild: Sowohl im Bachelor als auch im Master liegen die Studienzeiten im Lehramt im Durchschnitt unter denen vieler anderer Studiengänge an der Freien Universität – teils ein bis zwei Semester. Die Schwundquoten liegen an der Freien Universität für das Lehramt an Integrierten Sekundarschulen und Gymnasien bei unter 20 Prozent im Bachelor und bei etwa 5 Prozent im Master. Im Lehramt an Grundschulen sind sie etwa halb so hoch. Besonders hervorzuheben ist der hohe nahtlose Übergang unserer Studierenden vom Bachelor in den Master. Wesentlichen Anteil daran hat die Dahlem School of Education, die mit Qualitätssicherung, Beratungsangeboten und Studienbegleitung gezielt zur Stabilisierung beiträgt.
Sven Chojnacki ist Vizepräsident für Studium und Lehre der Freien Universität und zuständig für die Lehrkräftebildung. Er leitet am Otto-Suhr-Institut den Arbeitsbereich „Friedens- und Konfliktforschung“ und ist Sprecher des Zentrums für interdiszipl
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Wie passen Ihre positiven Befunde zu den Negativschlagzeilen wie etwa, dass in Berlin besonders viele Lehramtsstudierende ihr Studium abbrechen würden?
Solche Schlagzeilen sorgen verständlicherweise für Verunsicherung – bei den Studierenden wie auch in der Öffentlichkeit. Die Aussage einer angeblichen Schwundquote von 64 Prozent an Berliner Hochschulen basiert auf einer Lehrkräftetrichter-Studie des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft. Darin werden zwar korrekte Daten aus offiziellen Statistiken der Bundesländer verwendet. Diese werden jedoch methodisch problematisch analysiert, was zu stark verzerrten Ergebnissen führt. Kritische Blicke auf Schwundquoten müssen selbstverständlich erlaubt sein. Dafür braucht es jedoch methodische Sorgfalt und keinen falschen Alarmismus, der differenzierte bildungspolitische Debatten unnötig erschwert.
Welche Schwächen sehen Sie in der Methode dieser Studie?
Ihre zentrale Schwäche liegt in einer fehlenden Kohortenlogik. Eine valide Schwundquote erfordert eine kohortenbasierte Betrachtung, die eine definierte Kohorte von Studierenden innerhalb der Regelstudienzeit zugrunde legt. Das ist in der Studie nicht passiert. Die Studie setzt vielmehr die Zahl der Personen, die einen Master abschließen, ins Verhältnis zu denjenigen, die einen Bachelorstudiengang beginnen und bezeichnet die Differenz als „Schwund“. Dadurch wird jedoch nicht berücksichtigt, dass wir in den vergangenen Jahren mit immer größer werdenden Studierendenkohorten gestartet sind. Zudem werden Studienzeitverlängerungen oder Hochschulwechsel nicht berücksichtigt. Und auch für die pauschale These, dass Studierende das Lehramtsstudium aufgrund mangelnden Praxisbezugs abbrechen würden, fehlen in der Studie empirische Belege. Unsere eigenen Befragungen der Dahlem School of Education zeigen vielmehr: Die Lehramtsstudierenden erleben das Studium als praxisnah, nützlich und inhaltlich relevant – und sind insgesamt ziemlich zufrieden mit ihrem Studium.
Was schätzen die Lehramtsstudierenden am Studium insbesondere an der Dahlem School of Education?
Vor allem die enge Verknüpfung von Theorie und Praxis. Neben den verpflichtenden Praxisphasen haben wir mit hohem Engagement unserer Lehrenden viele weitere Formate entwickelt, die Unterrichtserfahrungen realitätsnah abbilden – etwa Unterrichtsvideos, simulationsgestützte Übungen und Lehr-Lern-Labore, in denen Studierende eigene Unterrichtsideen mit kleinen Schülergruppen erproben können. In Fachwissenschaft und Fachdidaktik lernen die Studierenden, wie sie Fachinhalte vermitteln und für ihre Fächer begeistern. Im Laufe ihres Studiums begegnen den Studierenden so verschiedene an der Schulpraxis orientierte und zugleich wissenschaftlich fundierte Formate. Die Rückmeldungen dazu zeigen: Sie fühlen sich fachlich vorbereitet, in ihrer Rolle als künftige Lehrkraft ernst genommen – und durch Lehrende wie Strukturen gut begleitet.
Welchen besonderen Fokus setzen Sie bei der Entwicklung der Lehrkräftebildung an der Freien Universität?
Unsere Weiterentwicklung folgt drei strategischen Linien: Erstens wollen wir Studierende wieder stärker für die Studieninhalte gewinnen – denn eine rein pragmatische Ausbildung „on the job“ ersetzt keine wissenschaftlich fundierte Professionalisierung. Zweitens flexibilisieren wir die Studienstrukturen im Master und unterstützen noch gezielter. Drittens bauen wir Entlastungsangebote aus, um mentale und strukturelle Belastungen frühzeitig aufzufangen. Für uns ist gute Lehrkräftebildung gerade kein technokratisches Systemprodukt, sondern Ausdruck unserer akademischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Und: Sie ist ein Labor für Zukunftskompetenzen: von der Demokratie- und Nachhaltigkeitsbildung über Inklusion bis hin zur kritischen Medienkompetenz im digitalen Raum.
Und welche Unterstützung wünschen Sie sich von der Politik für die Lehrkräftebildung?
Vor allem Verlässlichkeit. Lehrkräftebildung ist eine zentrale bildungspolitische Daueraufgabe – sie braucht langfristige Planung, nachhaltige Finanzierung und stabile Partnerschaften. Wenn das Land Berlin mehr Studienplätze fordert, muss es dauerhaft in zusätzliches Personal investieren – und dieses müssen wir auch erst gewinnen. Sonderprogramme sind nur bedingt sinnvoll: Sie erzeugen hohen Verwaltungsaufwand und führen überwiegend lediglich zu befristeten Projektstellen. Gute Ausbildung braucht aber Kontinuität und Struktur. Wer den strukturellen Ausbau der Lehrkräftebildung ernst meint und diesen nicht zulasten der Qualität in der Ausbildung voranbringen will, muss auch die strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen.
Welche Botschaft möchten Sie jungen Menschen, die Lehrerin oder Lehrer werden möchten, mit auf den Weg geben?
Sie werden gebraucht – und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt! Wer sich heute für ein Lehramtsstudium entscheidet, übernimmt Verantwortung für kommende Generationen und gestaltet aktiv die Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft. Diese Entscheidung verdient nicht nur Respekt, sondern auch die besten Ausbildungsbedingungen. Wir als Freie Universität stellen dafür die Weichen: mit wissenschaftlich fundierter Lehre, innovativen Praxisformaten und individueller Begleitung. Denn gute Bildung braucht professionelle Ausbildung – und Lehrkräfte, die wissen, warum sie tun, was sie tun.
Das Interview führte Christine Xuân Müller