Sie mag es, wenn etwas System hat
Irina Bakhareva gewann die Deutscholympiade in Russland und löste ihren Preis an der Freien Universität Berlin ein
20.08.2015
Zur Schule ging sie in Sankt Petersburg, ihr Bachelorstudium absolvierte sie in Moskau, es folgten Auslandssemester in Berlin und in Cadiz, Südspanien. Jetzt ist Irina Bakhareva zurück in der Bundeshauptstadt. Die Gewinnerin der russischen Deutscholympiade 2015 hat verschiedene Bildungssysteme und -ansätze kennengelernt. Sie hat viel zu berichten und noch mehr vor.
Wir treffen uns auf dem Campus der Freien Universität in Dahlem. Irina besucht hier das Seminar Schlüsselwerke der deutschen Literatur von der Klassik bis zur Gegenwart im Rahmen der FUBiS, der internationalen Sommer- und Winteruniversität der Freien Universität. „Ich mag es, wenn es im Studium einen systematischen Ansatz gibt“, sagt sie. „Wie sich für mich gezeigt hat, trifft das vor allem auf die universitäre Bildung in Russland zu.“
Irina bringt meine stereotype Vorstellung von „deutsch = systematisch“ in kürzester Zeit ins Wanken. Das muss sie erklären. Im Bachelorstudium in Russland, sagt sie, hätten die Studierenden innerhalb eines Faches keine Freiheiten in der Wahl ihrer Kurse. Es gebe einen vorgefertigten Stundenplan, jeder Kurs sei obligatorisch.
Das sei auch gut so, meint Irina, denn die wenigsten Studierenden könnten in diesem Alter bereits gut überlegte und weitsichtige Entscheidungen treffen. Und führt als Beweis einige ihrer deutschen Freunde an: Diese bereuten es mittlerweile, bestimmte Kurse, die sie heute für notwendig erachteten, nicht belegt zu haben.
So etwas würde in Russland nicht passieren. Wer dort beispielsweise eine PR-Spezialistin werden möchte wie Irina, muss Geschichte und Philosophie, Literatur und Russisch studieren (ja, Russen studieren ihre eigene Sprache elf Jahre lang während ihrer Schulzeit und weitere vier Jahre an der Universität), und erst dann kommt das Studium fachspezifischer Disziplinen wie Journalismus oder eine Einführung in die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dazu.
„Ich möchte nichts verpassen“
Als ich Irina frage, ob dies denn in Spanien wieder anders sei, antwortet sie: „Oh, die Spanier sind sooooo entspannt.“ Dabei lehnt sie sich zurück und spricht die Wörter plötzlich gedehnt und tiefer aus, als ob sie gleich anfangen würde, ein Lied zu singen. „Sie machen sich nicht allzu viele Sorgen darüber, dass sie etwas verpassen könnten… Viel zu entspannt für mich!“, sagt die russische Studentin.
Die deutsche Sprache ist ein perfektes System, findet Irina. „Gefühle herrschen darin niemals vor. Man findet es nur sehr selten, dass die Reihenfolge der Wörter umgedreht wird, um etwas zu betonen. Das Verb hat immer einen bestimmten, für es reservierten Platz.“ Sie mag es, „den Code einer Sprache zu knacken“ – und war diesbezüglich bislang sehr erfolgreich im Deutschen, Englischen, Spanischen und Französischen. Deutsch ist und bleibt aber ihr Favorit.
Ihr Sieg in der höchsten Niveaustufe (C1) bei der Deutscholympiade 2015 ist das Ergebnis dieser Leidenschaft. Eine Leistung, die die Freie Universität mit der Möglichkeit zu einem mehrwöchigen Fachkurs in Berlin würdigt. „Als eine der deutschen Exzellenz-Universitäten mit einem starken Fokus auf den Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen Deutsch Unterrichtssprache und ebenfalls wichtig für die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse ist, wollen wir diejenigen unterstützen, die Deutsch lernen und motiviert genug sind, an einem solchen Wettbewerb teilzunehmen“, sagt Tobias Stüdemann, Leiter des Verbindungsbüros der Freien Universität in Moskau.
Die Deutscholympiade fand 2015 zum zweiten Mal statt. Es nahmen rund 1.500 Studierende aus ganz Russland daran teil. „Wir belohnen die Anstrengungen der Teilnehmer, indem wir es den Gewinnern ermöglichen, am FUBiS-Programm der Freien Universität teilzunehmen“, erklärt Stüdemann. Irina hat – zielorientiert, wie sie ist – den einzigen Kurs gewählt, der auf Deutsch stattfindet: „Ich sehe keinen Sinn darin, nach Berlin zu kommen, um Englisch zu sprechen“, sagt sie.
Zeit, die Seele zu nähren
Die wichtigsten Werke der deutschen Literatur in nur einem Monat zu studieren, schien ihr dennoch unmöglich: „Wir hätten ein halbes Jahr lang mit der Analyse von nur einem Werk von Tolstoi verbringen können, damals in der Schule, weißt du, und deutsche Autoren fassen sich jetzt auch nicht unbedingt kurz“, erklärt sie mir.
Aber Anja Richter, Dozentin des FUBiS-Seminars „Schlüsselwerke der deutschen Literatur von der Klassik bis zur Gegenwart” habe die Veranstaltung zu einer spannenden Erfahrung gemacht, sagt Irina, als wir uns auf den Weg zur berühmten Philologischen Bibliothek der Freien Universität machen. Bei der Lektüre zuhause habe sie die Texte nur aus einer Perspektive interpretiert, durch die Fragen der Dozentin im Seminar seien ihr jedoch plötzlich viele verschiedene Möglichkeiten der Textinterpretation deutlich geworden.
Literatur und Sprachwissenschaft sind derzeit Irina Bakharevas Schwerpunkte. Sie spielt sogar mit dem Gedanken, einen deutschen Master in diesen Fächern zu machen. „Mit meiner Ausbildung als PR-Fachfrau kann ich mir meinen Lebensunterhalt sowohl zu Hause in Russland als auch im Ausland verdienen“, sagt sie. „Aber ich liebe Sprachen schon mein ganzes Leben lang, und ich würde mich gerne intensiver mit der Sprachwissenschaft auseinandersetzen. Es ist Zeit, meine Seele zu nähren.“
Die Autorin des Artikels, Evgeniia Sinepol, kommt aus Sankt Petersburg und arbeitet dort in der Pressestelle der Universität. Momentan ist sie Studentin im Master “Global Communications and International Journalism”. Der Studiengang wird seit 2014 in Kooperation zwischen der Freien Universität und der Staatlichen Universität Sankt Petersburg durchgeführt.