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In der verbotenen Zone

Die Filme Ingmar Bergmans im Blick: Vortrag in der Reihe „Freiheit der Kunst – Grenzen der Freiheit?“ des Offenen Hörsaals

12.08.2015

Das Werk Ingmar Bergmans war Thema beim Offenen Hörsaal. Das Bild zeigt den schwedischen Film- und Theaterregisseur (rechts) mit dem Kameramann Sven Nykvist während der Dreharbeiten zu „Wie in einem Spiegel“ im Jahr 1960.

Das Werk Ingmar Bergmans war Thema beim Offenen Hörsaal. Das Bild zeigt den schwedischen Film- und Theaterregisseur (rechts) mit dem Kameramann Sven Nykvist während der Dreharbeiten zu „Wie in einem Spiegel“ im Jahr 1960.
Bildquelle: wikimedia commons / Schwedisches Filminstitut.

Der Filmwissenschaftler und Publizist Thomas Koebner nahm in seinem Vortrag Filme Bergmans und auch die damit verbundenen Tabubrüche und Skandale in den Blick.

Der Filmwissenschaftler und Publizist Thomas Koebner nahm in seinem Vortrag Filme Bergmans und auch die damit verbundenen Tabubrüche und Skandale in den Blick.
Bildquelle: David Bedürftig

„Ein Tabu“, erklärte Thomas Koebner in Anlehnung an Siegmund Freud, „ist eine verbotene Zone, körperlich wie geistig.“ Meist führten von der Gesellschaft als unrein bezeichnete Wünsche des Menschen zur Errichtung dieser moralischen Schranke. Der an der Universität Mainz emeritierte Filmwissenschaftsprofessor und Publizist sprach an der Freien Universität zum Thema „Film, Tabu, Skandal: Ingmar Bergman“. Der schwedische Filmemacher (1918-2007), der 1997 bei den Filmfestspielen in Cannes als bester Regisseur aller Zeiten geehrt worden ist, habe menschliches Begehren und Triebe auf Zelluloid gebannt und damit in den 1950er und 1960er Jahren wie kein zweiter gegen moralische Tabus revoltiert.

In Bergmans frühen Werken, sagte Koebner, habe vor allem die kritische Behandlung der christlichen Kirche in Deutschland einen Skandal ausgelöst und für Empörung gesorgt. Die Gründe sieht der Filmwissenschaftler in Bergmans erzprotestantischer Erziehung: „Der Regisseur war als Kind Opfer eines zornigen, evangelischen Pastoren-Vaters. Aus dieser doppelten Strenge entstand eine doppelte Abkehr.“

Ganz wie in Martin Luthers „Kleinem Katechismus“ sei dem Schweden eingeflößt worden, Gott zu fürchten und dann erst zu lieben. Die Ablehnung jeglicher Orthodoxie verarbeitete Bergman vor allem in seinem Film „Die sieben Siegel“ aus dem Jahr 1957, personifiziert im lethargisch-gähnend knienden Max von Sydow vor dem Kreuz.

Bergmans Auflehnung gegen den Pastoren-Vater

In Bergmans filmischem Werk erkennt Koebner die damals als besonders skandalös empfundene „beinahe vernichtende Diskriminierung des Berufsstandes der Pastoren, die sich ihres seelsorgerischen Auftrags entledigt haben“. Das sei nicht nur eine Auflehnung gegen den Pastoren-Vater gewesen, sondern auch eine Revolte gegen gesellschaftlich fixierte Tabus.

So habe sich der Filmemacher in seinem Oeuvre anschließend auch der irdischen anstatt der himmlischen Liebe gewidmet. Die verbotene Zone – „die Fleischeslust, der in der Kirche und im Hause Bergman aufs Äußerste misstraut wurde“ – werde vor allem in „Schweigen“ aus dem Jahr 1963 ausgekundschaftet: „Der bedeutendste Skandalfilm der 1960er Jahre – und auch der erfolgreichste“, so Koebner. Die sich darin auf der Heimreise nach Schweden befindenden Schwestern Anna und Esther verschwiegen einander ihre tiefsten Gefühle: Zerrissenheit, Wut, Lust und Ekstase.

„Bergmans Kamera ruht auf den Gesichtern, Großaufnahmen auf Fühl-Nähe werden hier als ästhetisches Prinzip des Detail-Realismus genutzt“, sagte der Filmwissenschaftler. Ebenso unvermittelt, nah und explizit wie die Kameraführung sei auch die Darstellung von Sexualität. Gezeigt würden bis dahin in Deutschlands Kinos undenkbare Bilder.

Heftige Zensur-Debatte in Deutschland

Obwohl die Sex-Szenen zu den „kurzen und angedeuteten des Films gehören“, hätten sie eine heftige Zensur-Debatte in Deutschland entfacht. Die Bevölkerung habe Schamgefühle empfunden, die bis heute nachwirkten – wie eine Frau aus dem Publikum erzählte, die den Film als 19-Jährige im Kino sah, aber danach nie wieder: „Wir waren so aufgeregt, dass wir gar nichts mitbekommen haben, weil wir dachten, wir tun gerade etwas Schlimmes.“

Dabei stecke in „Schweigen“ so viel mehr als Sexualität, erklärte Koebner. Der Streifen zeige noch andere verbotene Zonen: Dass Anna Begehren zeige, breche mit dem Bild und der klassischen Rolle der Mutter; Bergmans Nahaufnahmen der leidend sterbenden Esther zerstörten die Illusion vom sanften Tod.

Bergman gehe es um die existenzielle Befindlichkeit des Menschen, sagte Koebner: „Er zwingt den Betrachter zum Hinsehen und bricht dadurch immer wieder Tabus.“ Gezeigt würden Ausbrüche einzelner Personen, die sich nicht länger den herrschenden gesellschaftlichen Mustern unterwerfen. Das sei das eigentliche Vermächtnis des Regie-Genies Ingmar Bergman.