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Sieben Minuten Schönberg

Joy H. Calico spricht am 30. Juni um 18 Uhr über die Rezeption einer der wichtigsten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust

30.06.2015

Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Joy H. Calico hält am 30. Juni einen Vortrag an der Freien Universität Berlin.

Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Joy H. Calico hält am 30. Juni einen Vortrag an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Karin Goihl

Aus der Original-Partitur von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“

Aus der Original-Partitur von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“
Bildquelle: Abb. mit Erlaubnis von Belmont Music Publishers; Arnold-Schönberg-Zentrum, Wien

Mit seinem Werk „Ein Überlebender aus Warschau“ hat Arnold Schönberg, einer der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts, dem Widerstand der Menschen im Warschauer Ghetto ein musikalisches Denkmal gesetzt. Der in Wien geborene Schönberg war bis zu seiner Emigration 1933 Leiter der Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie für Künste in Berlin. Im amerikanischen Exil vertonte er 1947 innerhalb von wenigen Tagen eigene Texte, die auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten entstanden waren. Am 30. Juni um 18 Uhr hält Joy H. Calico, Musikwissenschaftlerin an der Vanderbilt University, Tennessee, und Vorstandsmitglied der German Studies Association (GSA), einen Vortrag mit dem Titel „Arnold Schoenberg’s A Survivor from Warsaw in Postwar Europe: Musical Remigration and Holocaust Commemoration in the Germanys“.

Die in Zwölftontechnik komponierte siebenminütige Kantate beschreibt die Perspektive eines Menschen, der bei der Zerstörung des Warschauer Ghettos von den Nazis bewusstlos geschlagen und für tot gehalten wird. 1948 in Albuquerque, New Mexico, uraufgeführt wurde das Stück in Europa zum ersten Mal 1949 in Paris gespielt. Campus.leben sprach im Vorfeld mit Joy H. Calico über die konfliktgeladene Rezeption des Werks im Nachkriegseuropa.

Frau Professorin Calico, was hat Ihre wissenschaftliche Neugier geweckt, die Rezeption dieser außergewöhnlichen Kantate zu untersuchen?

Das Projekt hat mit einer Fußnote begonnen. Ich schrieb über ost- und westdeutsche Komponisten, die sich in den 1950er Jahren mit dem Antisemitismus auseinandersetzten und fragte beim Arnold-Schönberg-Zentrum in Wien an, wie oft Schönbergs Kantate bisher aufgeführt worden sei. Sie wussten es nicht. Über Dokumente zu Tantiemen konnte ich schließlich über ein Dutzend Aufführungen in Europa ausmachen.

Der Vortrag ist Teil eines größeren Forschungsprojekts, in dem Sie die Rezeption in sechs Ländern in den 1950er Jahren vergleichen. Neben Ost- und Westdeutschland untersuchen Sie die Reaktionen in Österreich, Norwegen, Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei. Wurde die Kantate in diesen vier Ländern mit weniger Unbehagen aufgenommen als in den beiden deutschen Staaten?

Ja und nein. Mich hat überrascht, wie ähnlich die Themen waren, die in allen untersuchten Ländern eine Rolle spielten: Antisemitismus, die Frage nach Schuld und Verantwortung, Fragen zur Besatzung im Nachkriegseuropa, ethische Fragen zur Rolle der Kunst und ästhetische Positionen zur Zwölftonmusik. Aber natürlich gibt es auch Unterschiede. Die Rezeption in Norwegen, wo die Anzahl der Opfer glücklicherweise kleiner war und man stolz war, Widerstand geleistet zu haben, ist natürlich von anderen gesellschaftlichen Dynamiken gekennzeichnet.

Westliche klassische und moderne Musik wird auf der ganzen Welt gespielt. Wird Schönbergs Stück, das musikalische Trauerarbeit und Widerstand vereint, auch im außereuropäischen Raum gespielt?

Eine gute Frage. In Israel wurde das Stück 1957 in Jerusalem aufgeführt. Jedoch habe ich keine Dokumente gefunden, die auf eine Kontroverse hindeuten.

In Deutschland gedenken wir dieses Jahr des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. Die Erinnerungskultur ist hierzulande ein fester Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Diskurse. Gibt es im 21. Jahrhundert noch Unbehagen oder auch sogar offene Ablehnung gegenüber diesem Werk?

Es gibt nach wie vor ein Unbehagen bezüglich der ethischen Frage: Ob Kunst das Leid von Menschen darstellen darf und wenn ja, in welcher Form das angemessen wäre. Die ist natürlich eine komplexe Problematik, die auch heute nicht leicht zu beantworten ist.

Die Fragen stellte Karin Goihl

Weitere Informationen

„Arnold Schoenberg’s A Survivor from Warsaw in Postwar Europe: Musical Remigration and Holocaust Commemoration in the Germanys“

Zeit und Ort

  • Dienstag, 30. Juni, 18 bis 20 Uhr mit anschließendem Empfang
  • Seminarzentrum der Freien Universität Berlin, Raum L115, Otto-von-Simson-Str. 26, 14195 Berlin (U3, Bhf. Thielplatz oder Dahlem-Dorf)

Weitere Informationen finden Sie hier.