Alles verjährt und vergessen – bis auf eine Tat
Das Internet vergisst nie, das deutsche Justizsystem sehr wohl und das erstaunlich schnell. Das ist – in vielen Fällen – auch gut so. Ein Gespräch mit den Strafrechtler*innen Kirstin Drenkhahn und Gerhard Seher
12.11.2025
Warum zieht unser Rechtssystem es vor, bestimmte Straftaten einfach zu vergessen? Wer profitiert mehr von der Verjährung: die Täter oder die Opfer? Und welche Fälle kommen als „cold cases“ infrage, sodass sie entgegen jeder Verjährung Jahrzehnte später noch aufgeklärt werden können?
Im deutschen Recht gibt es ein Instrument, das sich wie eine Art „Vergessen von Amts wegen“ ausnimmt: die Verjährung. Wer einen Diebstahl begeht und nicht entdeckt wird, kann schon fünf Jahre später nicht mehr dafür belangt werden, auch wenn klar ist, dass er oder sie es gewesen ist. Aber selbst, wenn ein Dieb überführt und dafür zu einer Geldstrafe verurteilt wird, kann er drei Jahre nach seiner rechtskräftigen Verurteilung ein Führungszeugnis vorlegen, in dem von seiner Tat nichts steht: Weil das Rechtssystem es für wichtiger erachtet, sie zu vergessen, als künftige Arbeitgeber davon zu unterrichten.
Warum ist das so? Welche Straftaten sind unverjährbar und welche pragmatischen Argumente sprechen für oder gegen die Verjährung? Darüber diskutieren Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht und Kriminologie, und Gerhard Seher, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie.
Prof. Dr. Gerhard Seher, Professor für Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Rechtsphilosophie
Bildquelle: Privat
Sowohl Seher als auch Drenkhahn sehen zunächst pragmatische Gründe, die für die Verjährbarkeit von Straftaten sprechen: Je länger eine Straftat zurückliegt, desto schwieriger ist es gemeinhin, sie zu beweisen. Zeuginnen und Zeugen werden sich nicht mehr an Dinge erinnern, die sie vor zehn oder zwanzig Jahren gesehen haben. Überwachungsvideos werden gelöscht, Akten entsorgt, Spuren verwischt. Aus Sicht der Gerichtsbarkeit gelte, sagt Gerhard Seher: „Man will keine Strafverfahren führen, die am Ende scheitern, weil die Beweise nicht mehr vernünftig zu erbringen sind.“
Ist ein Täter nach 30 Jahren noch derselbe Mensch?
Das sei auch nicht wirklich kontrovers, argumentiert Seher, solange es um Eigentumsdelikte gehe oder um zivilrechtliche Ansprüche: Es dient dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und der Vermeidung von unsinnigen Prozessen. „Man würde dann argumentieren: Nach einer gewissen Zeit und mit immer schwächer werdender Beweislage ist die Chance, ein richtiges Urteil zu fällen, so gering geworden, dass es vorzuziehen ist, den Status quo zu akzeptieren.“
Allgemeiner und philosophischer könne man fragen, sagt Seher, ob jemand 30 Jahre nach einer Tat noch derselbe Täter sei oder ob sich ein Mensch nicht so ändern und beispielsweise bessern könne, dass er nicht mehr für eine Tat aus seinem früheren Leben belangt werden sollte.
Kirstin Drenkhahn argumentiert, dass das im Jugendstrafrecht sogar in sehr viel kürzeren Zeiträumen denkbar sein muss: „Im Jugendstrafrecht wird berücksichtigt, dass junge Menschen sich sehr schnell verändern. Und weil die Verfahren und die Sanktionierung erzieherisch wirken sollen, also auf Rückfallvermeidung ausgerichtet sind, kann ein Jugendlicher sich schon nach einem Jahr so verändert haben, dass eine Verurteilung nur noch wenig Sinn ergibt. Man denke an Pubertierende, die in einer schwierigen Lage und mit falschen Freunden etwas anstellen, und sich vielleicht schon 12 Monate später gefangen haben, eine Ausbildung absolvieren und in einem positiven sozialen Umfeld leben: Natürlich wird das dann auch bei der Sanktionsauswahl berücksichtigt.“
Konsequenz aus dem Nationalsozialismus
Interessanterweise ist es nun so, dass auch die Unverjährbarkeit, die in Deutschland nur für Mord gilt, nicht aus prinzipiellen Gründen und philosophischer Herleitung existiert, sondern aus pragmatischen Überlegungen eingeführt wurde: „Das hatte konkrete historische Hintergründe“, sagt Gerhard Seher. „Die Mordtaten aus der Nazi-Zeit drohten in den 1970er-Jahren zu verjähren, aber die deutsche Justiz war wirklich nicht gut darin gewesen, das Nazi-Unrecht juristisch aufzuarbeiten. Um das weiterhin möglich zu machen, wurde 1979 die Verjährung für Mord abgeschafft.“
Dadurch können Nazi-Verbrecher auch 80 Jahre später noch zur Rechenschaft gezogen werden. Und es gibt die Möglichkeit, „cold cases“, ungelöste Fälle aus der Vergangenheit, aufzuklären, etwa dank neuer technischer Möglichkeiten der Beweisauswertung wie der DNA-Analyse, die manche Taten noch Jahrzehnte später aufklären können.
Anreiz zu zügiger Bearbeitung
Kirstin Drenkhahn gibt indes zu bedenken, dass eine Aufhebung der Verjährung auch für andere Straftaten, etwa sexuellen Missbrauch, wie das manchmal gefordert wird, nicht per se dazu führen würde, die Chancen einer Verurteilung zu erhöhen: „Die Schwierigkeit, Straftaten zu beweisen, die Jahrzehnte zurückliegen und möglicherweise von Kindern erlitten wurden, aber nun konkret und präzise belegt werden müssen, führt in den wenigstens Fällen zu einer Verurteilung. Das aber verschafft den Opfern keine wirkliche Befriedigung, weil es dann so wirkt, als ob ihnen schon wieder nicht geglaubt wird.“
Drenkhahn verweist auf einen Effekt des Verjährungsprinzips, der in jedem Fall im Interesse der Geschädigten einer Straftat liegt: Es rege die Strafverfolgungsbehörden und das Justizsystem dazu an, die Akten nicht liegenzulassen, sondern möglichst zügig zu bearbeiten. Man könnte argumentieren: Das ermöglicht es, die Be- und Aufarbeitung in einem halbwegs angemessenen zeitlichen Rahmen abzuschließen. Bis das Vergessen seine heilsame Wirkung entfalten kann.
Weitere Informationen
Dieser Text ist die Langfassung eines Artikels, der im et al.-Newletter 04/2025 der Freien Universität am 13. November 2025 erschienen ist.



