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Von Berliner Schnauze bis Wiener Schmäh

Im deutschen Sprachraums gelten unterschiedliche Höflichkeitsregeln – wird erzählt. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus Bielefeld, Salzburg und Zürich will der Berliner Sprachwissenschaftler Horst Simon herausfinden, ob das stimmt.

07.05.2025

Brötchen? Schrippe? Semmel? An der Bezeichnung für das kleine bisschen Teig scheiden sich oft die Geister.

Brötchen? Schrippe? Semmel? An der Bezeichnung für das kleine bisschen Teig scheiden sich oft die Geister.
Bildquelle: picture alliance - dieKLEINERT.de - Andreas Prüst

Wer von Berlin nach Köln, Zürich oder Wien reist, stellt fest: Die Menschen dort sprechen anders Deutsch. Und zwar nicht nur, was Vokabular, Satzbau und dialektale Färbung betrifft, sondern auch hinsichtlich dessen, was in der Linguistik „Pragmatik“ genannt wird – die Art und Weise, wie Sprache im sozialen Umgang verwendet wird. „Ein Beispiel sind etwa Höflichkeitsnormen“, sagt Horst Simon, Professor für Historische Sprachwissenschaft an der Freien Universität. „Den Menschen in Berlin sagt man da eher einen raueren Umgangston nach, während die Menschen in der Schweiz als umsichtiger, freundlicher gelten.“ 

Doch stimmen diese Alltagserfahrungen? Horst Simon will dies empirisch überprüfen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Bielefeld, Salzburg und Zürich hat er dazu das dreijährige sprachwissenschaftliche Forschungsprojekt „Variantenpragmatik des Deutschen – Kommunikative Muster im Vergleich“ (VariPrag) ins Leben gerufen. Dort untersuchen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sprachliche Routinen im Deutschen in verschiedenen Ländern und Regionen. 

„Die Wissenschaft hat Unterschiede im deutschen Sprachraum seit dem 19. Jahrhundert in den Blick genommen“, sagt Simon. „Aber da geht es fast ausschließlich um Laute und Vokabeln, also beispielsweise die Frage, wo es Schrippe, Brötchen oder Semmel heißt.“ Über die Frage, wie sich Menschen in unterschiedlichen Regionen allerdings insgesamt sprachlich verhalten, darüber gebe es keine gesicherten Daten. 

„Im Rahmen von VariPrag interessieren wir uns beispielsweise dafür, ob regionale Unterschiede darüber bestehen, wie Menschen Wünsche ausdrücken oder sich über etwas beschweren“, sagt Simon. „Aber es ist gar nicht so leicht, so etwas alltagsnah und dennoch systematisch zu erfassen.“

Verabschieden beim Bäcker

Was und wie der Sprachwissenschaftler mit seinen Kollegen und Kolleginnen genau erforscht, darüber möchte er am liebsten so wenig wie möglich sprechen. „Wir führen derzeit empirische Forschungen im öffentlichen Raum durch“, sagt er. „Ich will kein Risiko eingehen, dass da etwas verfälscht wird, weil die Menschen davon in der Zeitung gelesen haben.“ 

Nur so viel sei verraten: In einem ersten Versuch wurden Studierende in verschiedenen deutschsprachigen Städten auf die Straße geschickt, um kleine Alltagsexperimente durchzuführen. Beispielsweise sollten sie zuhören, wie sich Menschen in Bäckereien verhalten. Etwa, wie sie Bestellungen formulieren oder sich verabschieden. Es sei lediglich ein Testlauf gewesen, um die Methodik zu prüfen, sagt Simon. Dennoch seien erste Erkenntnisse 
entstanden. „Fast jeder Mensch verabschiedet sich beim Bäcker nach dem Bezahlen“, sagt Simon. „Aber jetzt stellen Sie sich vor, nachdem Sie das getan haben, stehen Sie noch eine Weile an der Theke, etwa weil Sie noch einpacken müssen oder mit Ihrem Regenschirm hantieren. Sagen Sie dann 30 Sekunden später nochmal Tschüss? Hier bestehen im deutschsprachigen Raum offenbar Unterschiede!“ 

Die Frage, wie sich Menschen in unterschiedlichen Sprachräumen an der Theke verhalten, beschäftigt Simon gewissermaßen seit Jahrzehnten. „Ich hatte da eine prägende Erfahrung, als ich in den 1990er Jahren das erste Mal aus Bayern nach Berlin kam“, sagt er. „Und hier das erste Mal einen Kaffee bestellte.“ 

Am Tresen sagte Simon damals, wie er es gewohnt war: „Ich hätte gerne einen Kaffee.“ Die Antwort des Kellners: „Hättste wohl jerne, wa?“

„Man könnte das jetzt schlicht Unfreundlichkeit nennen“, sagt Simon. „Als Sprachwissenschaftler gehe ich allerdings eher von einem kommunikativen Missverständnis aus – im Berlin der 1990er Jahre klang eine Bestellung im Konjunktiv für den Mann vermutlich völlig schräg.“

Simon betont: Unterschiede in Höflichkeitsnormen ließen nicht unbedingt Rückschlüsse darauf zu, ob Menschen tatsächlich höflicher oder unhöflicher sind. „Wir gehen davon aus, dass Menschen in unterschiedlichen Regionen des deutschsprachigen Raums in der Regel ein ähnliches Niveau an Höflichkeit an den Tag legen“, sagt Simon. „Allerdings wird diese Höflichkeit anders codiert — und wenn Menschen aus unterschiedlichen Sprachregionen und mit unterschiedlichen Codes aufeinandertreffen, dann können unbeabsichtigte Reibereien entstehen.“

Gegenwartssprache

Mit seiner Forschungsarbeit will Horst Simon zu einer alltagsnahen Sprachwissenschaft beitragen. „Die Linguistik hat sich lange Zeit vor allem mit geschriebener Sprache auseinandergesetzt“, sagt er. „Aber diese Sprache ist oft weit von der Sprache entfernt, die die Menschen tatsächlich sprechen.“ 

Während Simon sich im Rahmen von VariPrag der deutschen Gegenwartssprache vergleichend nähert, möchte er mit einem neuen Forschungsprojekt zusätzlich die historische Dimension der Alltagssprache erschließen. „Doch das ist methodisch noch schwieriger“, sagt er. „Denn für Zeiträume, bevor Tonaufnahmen technisch möglich wurden, gibt es selbstredend keine direkten Zeugnisse.“

Behelfsmäßig könne man sich an Komödien, an Briefen oder Tagebüchern bedienen, doch auch hier gebe es Grenzen. „Erstens haben die Menschen damals natürlich auch anders geschrieben als gesprochen“, sagt Simon. „Und zweitens haben vor dem 19. Jahrhundert auch nur sehr kleine Schichten der Bevölkerung überhaupt Briefe geschrieben.“

Lehrbücher analysieren

Simons zündende Idee: Er möchte Sprachlehrwerke analysieren. „Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Menschen angefangen, im großen Stil Fremdsprachenlehrwerke zu drucken“, sagt er. „Und zwar nicht nur für höfische, gebildete Schichten, sondern vor allem für reisende Handwerker und Kaufleute, die sich in Frankreich, Italien oder Polen orientieren wollten.“

Über diese Lehrwerke lasse sich nun der Alltagssprache und vor allem sprachlichen Umgangsformen früherer Zeiten auf den Grund gehen. „Wir finden in solchen Werken zahlreiche Beispielsätze und Musterdialoge“, sagt Simon. „Und wir können davon ausgehen, dass diese Sprache der Alltagssprache viel näher kommt, als wenn wir nur klassische Literatur der Zeit analysieren.“ 

Innerhalb einer Gruppe von Forschenden, die er gemeinsam mit der Sprachwissenschaftlerin Natalia Filatkina von der Universität Hamburg und der Computerphilologie-Expertin Andrea Rapp von der Technischen Universität Darmstadt leitet, möchte Horst Simon die Sprachlehrwerke einer eingehenden Untersuchung unterziehen. 

In einem neuen Langzeitprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sollen rund 1000 Lehrwerke innerhalb von 18 Jahren als Volltext digital erschlossen, nachhaltig aufbereitet und kommentiert und für weitere Analysen bereitgestellt werden. „Wir erschließen damit erstmals systematisch diese wertvolle Quelle für die kultur-, wissens- und sprachhistorische Forschung“, sagt Simon. „Und wir legen die Grundlage für eine ganz neue Erkundung des europäischen Sprachraums der Vormoderne.“