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„Kontinent der Revolutionen“

In den 1970er Jahren wurde am Lateinamerika-Institut um die Frage gerungen, wie sich die Wissenschaft zu aktuellen politischen Ereignissen positioniert. Die Historikerin Karina Kriegesmann über die Institutsgeschichte und Parallelen zur Gegenwart

07.05.2025

Haben nach der Revolution ihre Heimat verlassen: Studierende aus Kuba an der Berliner Mauer.

Haben nach der Revolution ihre Heimat verlassen: Studierende aus Kuba an der Berliner Mauer.
Bildquelle: picture alliance akg-images

Frau Kriegesmann, woher rührt Ihr Interesse an der Geschichte der Lateinamerika-Forschung in Berlin?

Das Lateinamerika-Institut (LAI) feierte im Jahr 2020 sein fünfzigjähriges Bestehen. Anlässlich des Jubiläums haben wir die Geschichte intensiv aufgearbeitet. Auch Studierende haben daran mitgewirkt. Dabei wollten wir nicht einfach die Geschichte des Instituts nacherzählen, sondern die zahlreichen Debatten aufarbeiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte dort abgespielt haben. Im Universitätsarchiv sind wir auf derart reichhaltiges Material gestoßen, dass ich beschlossen habe, diesem Themenkomplex eingehend auf den Grund zu gehen. Ich würde sagen, die Geschichte der Lateinamerika-Studien in Berlin ist ein Mikrokosmos der Ambivalenzen. Im Zentrum steht dabei eine Debatte um verschiedene Ansprüche auf Freiheit.

Was für Ansprüche waren dies?

West-Berlin verstand sich in den 1970er Jahren gegenüber dem Ostblock als eine Art „Vorposten der Freiheit“. Dies hat natürlich in besonderem Maße auch die Arbeit an der Freien Universität geprägt, die die Freiheit nicht ohne Grund im Namen trägt. Gleichzeitig war diese Freiheit immer auch umkämpft – im Rahmen von innenpolitischen und inneruniversitären Auseinandersetzungen ebenso wie auf internationaler Ebene mit den politischen Realitäten in Lateinamerika.

In welchem gesellschaftlichen Kontext fand diese Auseinandersetzung statt?

Das wissenschaftliche und öffentliche Interesse an Lateinamerika reicht im deutschsprachigen Raum Jahrhunderte zurück. Ende der 1960er Jahre kam es allerdings zu einem deutlichen Aufschwung. Es war auch eine Zeit, in der in vielen Ländern der Region Militärs an der Macht waren, deren Brutalität die Weltöffentlichkeit der Zeit schockierte. Besonders der Putsch in Chile im Jahr 1973 gegen den damaligen demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende wurde als weltpolitischer Einschnitt erlebt. Auch in der westdeutschen Studentenbewegung stieß Lateinamerika auf wachsendes Interesse. Insbesondere seit den 1960er Jahren galt Lateinamerika in linksintellektuellen Kreisen als „Kontinent der Revolutionen“. Menschenrechtsverletzungen, soziale Ungleichheiten, Befreiungskampf – das waren die großen Themen. Sie sorgten für volle Hörsäle und intensive Diskussionen.

Wie würden Sie die Stimmung am LAI in den 1970er Jahren beschreiben?

Am Institut prallten verschiedene wissenschaftliche Ansätze, Erfahrungen und auch Generationen aufeinander. Wie auch andere Fachbereiche der Freien Universität wurde das LAI von Professoren geprägt, die einst vor den Nationalsozialisten geflohen waren und später aus dem Exil nach Berlin zurückgekehrt waren. Viele von ihnen fremdelten mit der Rhetorik der jüngeren Generation politisch aktiver Studierender. Angesichts der Diktaturen, Gewalt und sozialen Ungleichheiten schlugen Letztere durchaus revolutionäre Töne an. Dadurch wurde die ohnehin aufgeladene Debatte um die politische Situation in Lateinamerika weiter aufgeheizt. Dies führte am LAI teilweise zu sehr heftigen Auseinandersetzungen. Immer war dies auch eine Diskussion um die akademische Freiheit und die Rolle der Wissenschaft in politischen Konflikten.

Karina Kriegesmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität.

Karina Kriegesmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität.
Bildquelle: Christian Demarco

Inwiefern? 

Es ging einerseits um die Frage, ob und wie sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler öffentlich zur politischen und gesellschaftlichen Situation in Südamerika äußern konnten oder sollten. Dies war eine zentrale Frage insbesondere nach dem Putsch in Chile 1973. Viele Angehörige des LAI zeigten damals ihre Solidarität mit geflüchteten Studierenden und Forschenden, positionierten sich klar auf der Seite der Menschenrechte. Es ging so weit, dass einige Universitätsmitglieder sogar vorschlugen, das LAI in Salvador-Allende-Institut umzubenennen. Andere forderten hingegen eine Position objektiver Distanz. Gleichzeitig gab es auch innenpolitischen Druck gegen eine zu starke Positionierung. 

Als Beispiel lassen sich auch Diskussionen um Formulierungen im Vorlesungsverzeichnis anführen. Ein am LAI tätiger Assistent bot etwa im Wintersemester 1975/76 eine Veranstaltung über die Gewerkschaften Argentiniens an. Im Veranstaltungstext bezeichnete der Dozent die damalige Gewerkschaftsbürokratie Argentiniens als „rechtsgerichtet bis faschistoid“. 

Dies zog eine direkte Reaktion der Rechtsabteilung des Präsidialamts der Freien Universität nach sich. Dort äußerte man rechtliche Bedenken, da die im Vorlesungsverzeichnis veröffentlichten Kommentare zu Lehrveranstaltungen „keine ideologischen Inhalte“ aufweisen dürften.

Kann man hier von einer Einschränkung der akademischen Freiheit sprechen? 

Zur wissenschaftlichen Freiheit gehört, dass Forschende das Vokabular verwenden können, das ihnen mit ihrer Expertise als korrekt und angemessen erscheint. Diese freie Wortwahl schien hier zunächst tatsächlich eingeschränkt. Nach Diskussionen konnte das Vorlesungsverzeichnis am Ende jedoch in der ursprünglichen Fassung gedruckt werden. Wichtig ist jedoch, dass man nicht nur darauf schaut, was am Ende dasteht oder nicht, sondern die Aushandlungsprozesse in den Blick nimmt. Es trafen hier unterschiedliche Perspektiven aufeinander, und es wurde miteinander gerungen. Ich plädiere dafür, diese Multiperspektivität in den Blick zu nehmen. Der Einbezug unterschiedlichster Sichtweisen ist selbst Teil der Wissenschaftsfreiheit. 

Sehen Sie Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen an Universitäten? 

Ich würde nicht so weit gehen, konkrete Vergleichsfälle mit anderen Weltregionen heranzuziehen. Aber natürlich drängt sich ein Vergleich auf, und Parallelen sind durchaus zu erkennen. Ich denke, die große Erkenntnis, die uns die Geschichte des LAI zeigt, ist, wie wichtig es ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven auseinanderzusetzen. 

Damals wie heute macht sich niemand Entscheidungen leicht. Es wäre nicht förderlich, einzelne Aussagen oder Schlagzeilen umgehend als Freiheit oder Verletzung der Freiheit zu interpretieren. Es geht um komplexe Aushandlungs- und Abwägungsprozesse, sowohl lokale als auch internationale. 

Haben Sie den Eindruck, dass dies früher einfacher war?

Ich denke nicht. Allerdings erscheint mir doch zentral zu sein, dass früher mehr miteinander gesprochen wurde als heute. Und zwar von Angesicht zu Angesicht, auf den Institutsfluren, in den Hörsälen und Gremien – nicht nur auf Social Media. 

Die Fragen stellte Dennis Yücel