„Wir haben in Südamerika viele Freunde, die unsere Werte teilen“
Stefan Rinke, Professor für Geschichte am Lateinamerika-Institut der Freien Universität, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf einer Reise nach Uruguay, Paraguay und Chile begleitet
24.03.2025
Ein besonderer Moment: Als Gast von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war Prof. Dr. Rinke (ganz rechts) zu Besuch bei dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric.
Bildquelle: Bundesregierung/ Steffen Kugler
Herr Professor Rinke, was konnten Sie auf der Reise mit dem Bundespräsidenten erleben?
Als Gäste von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier konnten wir an fast allen Programmpunkten der Reise teilnehmen. Ausgeschlossen waren lediglich einige vertrauliche Vier-Augen-Gespräche. Die Transparenz war bemerkenswert. Die Persönlichkeiten des Bundespräsidenten und seiner Gattin Elke Büdenbender haben mich sehr beeindruckt.
In allen drei Ländern, die wir bereist haben, haben wir sehr bereichernde Gespräche mit verschiedenen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft geführt. Ein besonderer Moment war das Gespräch zwischen dem Bundespräsidenten und dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric.
Was zeichnet Herrn Boric aus?
Gabriel Boric ist der jüngste Präsident in der chilenischen Geschichte. Er ist ein progressiv denkender Politiker, der gerade in der Erinnerungspolitik und in Sachen gesellschaftlicher Zusammenhalt wichtige Initiativen angestoßen hat. Aktuell muss sich seine Regierung jedoch mit der Mehrheit der Opposition im Parlament auseinandersetzen, sodass er nicht alle angedachten Reformen umsetzen konnte.
Prof. Dr. Stefan Rinke mit Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
Bildquelle: Bundesregierung/ Steffen Kugler
Welche Eindrücke und Erkenntnisse nehmen Sie von der Reise mit?
In erster Linie habe ich eine Vielzahl neuer Kontakte geknüpft von Wirtschaftsvertreter*innen über Kulturschaffende bis hin zu Diplomat*innen und Politiker*innen. Das war eine völlig neue und bereichernde Erfahrung für mich. Eine schöne Erkenntnis war, dass unsere Arbeit zur deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile allgemein viel Anerkennung erfahren hat.
Im Rahmen des Projekts „Interaktive Erinnerungen an die Colonia Dignidad“ kooperieren die Universitätsbibliothek und das Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin mit dem Museo de Memoria y Derechos Humanos (MMDH) in Santiago de Chile. Gemeinsam arbeiten wir an einer Dauerausstellung über die ehemalige deutsche Enklave im Süden Chiles. Dort wurden zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren unter anderem Sektenangehörige ausgebeutet und zahlreiche Kinder sexualisiert missbraucht. Während der chilenischen Diktatur 1973 bis 1990 wurden Oppositionelle dort gefoltert und ermordet. Diese mit Wissen deutscher Behörden begangenen Verbrechen wurden bislang nur ungenügend aufgearbeitet. Es wird in Chile sehr positiv wahrgenommen, dass sich dies nun ändert.
Wie bewerten Sie die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Südamerika?
Wir haben in Lateinamerika viele enge Freunde, die unsere Werte teilen. Das ist leider nicht mehr in vielen Weltregionen der Fall. Lateinamerikanische Demokratien sind wie die Demokratien weltweit vom Erstarken der neopopulistischen Rechten bedroht. Gerade Länder wie Chile und Uruguay haben dieser Bedrohung jedoch bisher Stand gehalten. Hier finden freie Wahlen statt, und die Regierungen wechseln friedlich. Die Bundesrepublik sollte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit den Demokratien des Subkontinents weiter ausbauen. Die Türen dort sind offen.
Welche Rolle spielt die deutsche Einwanderungsgeschichte in der Region?
Historisch sind die südlichen Länder Lateinamerikas stark von der deutschen Einwanderung geprägt. Die negativen Seiten deutscher Präsenz dürfen nicht übersehen werden. Dafür stehen als abschreckende Beispiele die Flucht hochrangiger Nationalsozialisten auf den sogenannten „Rattenlinien“ sowie die bereits angesprochenen Verbrechen in der Colonia Dignidad in Chile. Allerdings haben Deutsche dort auch viel Positives geschaffen, und die Anerkennung dafür ist allerorten groß. Dieses Freundschaftspotenzial sollten wir nutzen.
Die Fragen stellte Dennis Yücel
Weitere Informationen
Die Freie Universität pflegt zahlreiche Kontakte in die Region, vor allem in Chile und Uruguay. Austauschmöglichkeiten für Studierende bestehen mit der Universidad Católica del Uruguay und der Universidad de la República Uruguay sowie mit der Pontificia Universidad Católica de Chile und der Universidad Santiago de Chile. Kooperationen bestehen etwa zwischen dem Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung der Freien Universität und der Universidad Santiago de Chile, sowie im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs Temporalities of the Future mit der Universidad de Chile. Berührungspunkte mit Uruguay bestehen im Rahmen des Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila), an dem die Freie Universität beteiligt ist. Zudem forschen Angehörige der Freien Universität zu verschiedenen Themen in der Region, unter anderem etwa im Bereich der Erdbebenphysik oder den Auswirkungen der Corona-Pandemie.