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„Die Zivilgesellschaft ist elementar für den Bildungserfolg“

Bildung findet an Schulen und Universitäten statt, Menschen entwickeln sich auch durch Verbände, Vereine und Projekte weiter. Eine neue Studie vermisst zivilgesellschaftliches Engagement im Bildungsbereich

19.02.2025

Auch Sportvereine sind Bildungsorte. Dort lernen Menschen Regeln des guten Miteinanders von klein auf.

Auch Sportvereine sind Bildungsorte. Dort lernen Menschen Regeln des guten Miteinanders von klein auf.
Bildquelle: picture alliance/JOKER/Ralf Gerard

Gesellschaften auf der ganzen Welt erleben gerade rasante Umbrüche und immense politische Herausforderungen. In Zeiten von Klimawandel, Digitalisierung, demografischem Wandel und wachsendem Rechtspopulismus stehen immer mehr sicher geglaubte Grundsätze auf dem Kopf. „Der entscheidende Faktor, um sich in dieser wandelnden Welt zurechtzufinden, ist lebenslange Bildung“, sagt Sabine Süß. „Und diese Bildung findet nicht nur an Schulen und Universitäten statt – sondern wird ganz wesentlich von Vereinen, Stiftungen und verschiedensten zivilgesellschaftlichen Initiativen getragen.“

Sabine Süß ist Leiterin des Vereins „Stiftungen für Bildung“, einem Zusammenschluss von namhaften Stiftungen, die im Bildungsbereich aktiv sind und das bundesweit tätige Netzwerk Stiftungen und Bildung ermöglichen. Gemeinsam mit Swen Hutter, Professor für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin und Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung an der Freien Universität und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), hat sie untersucht, wie Menschen in Deutschland ehrenamtlich Bildungsarbeit leisten. Die Studie „Zivilgesellschaft und Bildung. Bürgerschaftliches Engagement in kommunalen Bildungslandschaften“ zeichnet erstmals ein differenziertes Bild von Bildungsangeboten in der deutschen Gesellschaft.

„Lange Zeit wurde ehrenamtliches Bildungsengagement sowohl in der Forschung als auch in der politischen Debatte unterschätzt“, sagt Swen Hutter. „Es galt als etwas, das gewissermaßen nebenbei und von selbst läuft. Unsere Studie zeigt jedoch, dass es um Millionen von Menschen geht, die mit teils erheblichem Aufwand einen immensen Beitrag im Bildungsbereich leisten.“

Lebenslanges Lernen

In ihrer Studie kombinierten die Forscherinnen und Forscher quantitative und qualitative Erhebungsverfahren. Rund 3000 Einzelpersonen und 5000 Vereine wurden online befragt. Zusätzlich fanden in jedem Bundesland eine Dialogrunde und Einzelinterviews mit verschiedenen in der Bildung engagierten Personen statt. „Die Vereine wurden per Zufall aus dem öffentlichen Vereinsregister gezogen“, sagt Swen Hutter. „Und zwar über alle Sektoren hinweg – ob Reitverein oder Gartenbau.“

Viele der eingeladenen Vereine hätten zunächst gar nicht verstanden, warum man sie im Rahmen einer Bildungsstudie befragen wollte. „Nur 13 Prozent der Vereine, mit denen wir gesprochen haben, verstanden sich überhaupt als Bildungsakteure“, sagt Swen Hutter. „Allerdings wurde in der Auswertung sehr deutlich, dass sie zentrale Bildungsarbeit leisten und großen Wert auf lebenslanges Lernen und Persönlichkeitsentwicklung legen.“ In vielen Gesprächen sei den Beteiligten zunehmend klargeworden, dass Bildung weit über die Vermittlung von schulischen Basiskompetenzen oder berufliches Fachwissen hinausgehe. „Auch in einem Sportverein erlernt man Kompetenzen, an denen man persönlich wächst und im Leben vorankommt“, sagt Sabine Süß. „Zusammenspiel, Strategie, Disziplin – auch das ist Bildung.“

Die Studie kommt zu dem Schluss: 61 Prozent der Ehrenamtlichen in Deutschland – das sind 19 Millionen Menschen – leisten eine derartige Bildungsarbeit. Zivilgesellschaftliche Strukturen trügen auf diese Weise maßgeblich zum Bildungserfolg von Millionen Menschen in Deutschland bei. „Damit leisten sie auch einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie“, sagt Hutter. „In Vereinen und Initiativen erwerben die Menschen die Kompetenzen für politisches Engagement und Teilhabe, und das quer über verschiedene soziale Gruppen hinweg.“ So etwa im Rahmen von Seniorpartner in School, das ehrenamtliche Mediatoren an Schulen vermittelt. „Im Zentrum steht hier das friedliche Zusammenleben über soziale Gruppen hinweg“, sagt Hutter.

Damit derartige Arbeit gelingen kann, müssen Organisationen laut Süß und Hutter aber auch in die Lage versetzt werden, diese Bildungsarbeit zu leisten. Die Mehrheit der befragten Organisationen verfügt nicht über bezahltes Personal und ist auf freiwilliges Engagement angewiesen. „Gemeinnützige Organisationen müssen finanziell besser ausgestattet werden“, sagt Sabine Süß. „Und dann ist noch eine andere Form der Investition nötig: Aufmerksamkeit und Vertrauen.“

Rund ein Drittel der Befragten gab an, sich von Schulen nicht als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen zu fühlen. „Die Menschen sind hochmotiviert, sich einzubringen und vor Ort gemeinsam mit Verwaltung, Politik und Schulen zu agieren“, sagt Sabine Süß. Doch in vielen Fällen würden sie nicht aktiv in wichtige Abläufe einbezogen, etwa bei der Entwicklung von Ganztagsschulen oder lokalen Bildungsstrategien. Dadurch werde viel Potenzial verspielt. Für die Zukunft hoffe sie, dass die Relevanz von zivilgesellschaftlichen Akteuren besser erkannt werde und diese besser eingebunden werden.

„Es geht jedoch nicht darum, dass die Zivilgesellschaft Lücken füllt, wenn der Staat nicht weiterkommt“, sagt Swen Hutter. „Stattdessen muss man sie gewähren lassen, damit sie ihr eigenes Potenzial entwickeln und ausspielen kann.“

Erfolge statt Defizite sehen

Mit Blick auf die Bundestagswahl kritisiert der Soziologe die Defizitorientierung der politischen Debatte. „Es geht viel darum, was alles nicht funktioniert“, sagt er. „Wir sollten mehr darauf achten, wie wir die Menschen vor Ort, die bereits jetzt großartige Arbeit leisten, besser unterstützen können.“ Um mehr Aufmerksamkeit und Geld für ihre Arbeit zu erhalten, sollten sich Vereine und Projekte vernetzen und auf sich aufmerksam machen, sagen Sabine Süß und Swen Hutter. „Es wird deutlich, dass viele Organisationen für andere Gruppen besser sichtbar werden wollen“, sagt Sabine Süß. „Sie sind bereit, dafür etwas zu tun, benötigen aber Koordination, Vernetzung und professionelle Begleitung.“

Mit der gemeinsam von Wissenschaft und Praxis erarbeiteten Studie ist dafür ein Grundstein gelegt. „Es geht dabei nicht nur darum, dass Wissen an andere vermittelt wird“, so Hutter, „sondern dass sich auch die Engagierten selbst für und in ihrem Engagement qualifizieren. In diesem Sinne wirkt Bildungsengagement zweifach.“