Demokratie = Veränderung + Stabilität. Lange ging die Rechnung auf. Und heute?
Was haben die politischen Systeme der USA, Deutschlands und das gerade im Entstehen begriffene in Syrien gemeinsam? Politikwissenschaftler Mounir Zahran von der Freien Universität Berlin forscht zu Enttäuschungsmanagement
12.02.2025
Wählen gehen. Zum Kern der Demokratie gehört, dass Wandel durch das Votum der Wähler*innen möglich ist. Hier warten Berliner*innen vor einem Wahllokal in Prenzlauer Berg darauf, bei der Bundestagswahl im September 2021 ihre Stimme abgeben zu können.
Bildquelle: Picture Alliance Hauke-Christian Dittrich
Mounir Zahran arbeitet zu Demokratie- und Verfassungstheorie, speziell zum institutionellen Design liberaler Demokratien und wie sie mit Erwartungen umgehen. Ein noch unveröffentlichtes Paper von ihm trägt den Titel „Offenheit und Unparteilichkeit. Wie Wahlen, Parlamente und Verfassungsgerichte enttäuschungsschonend auftreten“.
Der 30-jährige Wissenschaftler ist Doktorand am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und der Juristischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin. Er interessiert sich für einen Aspekt von demokratischer Politik, der oft übersehen wird: jene Fähigkeit von demokratisch verfassten politischen Systemen, mit Enttäuschung schonend umzugehen.
Dafür muss ein politisches System imstande sein, Wechsel und Veränderung mit Stabilität zu verbinden: Es muss möglich sein, Regierungen auszuwechseln, Richtungsentscheidungen zu treffen und zu revidieren, während zugleich das politische System in seiner liberal-demokratischen Ausrichtung stabil bleibt. Wer bei einer Abstimmung oder Wahl unterliegt, muss die Erwartung haben, dass er bei der nächsten gewinnen könnte.
Ist das Vertrauen in Demokratie aufgebraucht?
Die goldenen Jahre einer derartigen Verbindung von institutioneller Stabilität mit gleichzeitiger Wandlungsfähigkeit sieht Mounir Zahran sowohl für die Bundesrepublik als auch für die Vereinigten Staaten von Amerika in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren. Von den Erfahrungen mit der Kombination aus Wandel und Stabilität, die sich sicher auch der äußerst positiven damaligen wirtschaftlichen Entwicklung als Hintergrund verdanken, zehren die deutsche und amerikanische Demokratien noch heute. Jedoch erweist sich dieses Vertrauenskapitel als endlich.
Denn in beiden Systemen sehen wir heute auch, analysiert der Politikwissenschaftler, wie die Enttäuschungs-Bewältigungskompetenz auf je verschiedene Art an ihre Grenze kommt: In den USA glauben immer mehr Menschen nicht mehr daran, dass sie Einfluss darauf haben, Richtungsentscheidungen, mit denen sie nicht einverstanden sind, zu korrigieren. Und immer mehr zweifeln daran, ob die Wahlen selbst, die darüber entscheiden, überhaupt noch fair und vertrauenswürdig sind. Und zwar sowohl auf Seiten der Republikaner als auch auf Seiten der Demokraten. Naturgemäß muss das an den Grundfesten der Demokratie nagen.
In Deutschland trage zwar das Verhältniswahlsystem prinzipiell dazu bei, dass auch Wahlverlierer zufriedener seien als in reinen Mehrheitswahlsystemen, wo „the winner takes it all“ gelte; aber die Kehrseite davon sei die wachsende Schwierigkeit, handlungsfähige Mehrheiten zu organisieren, man denke an die häufiger werdenden Großen Koalitionen oder auch an die Ampel-Regierung, die, unabhängig davon, wie man zu ihr stehen mag, nicht mit Handlungsfähigkeit glänzte und damit erhebliche Enttäuschungen erzeugt hat.
Syriens Zukunft ist offen
Und wie passt Syrien in diese Diskussion? Dort herrscht immer noch die kurze Zeitspanne der freudigen Ungewissheit: Assads Regime ist Geschichte; was kommt, ist offen und erst auszuhandeln. Vor allem das institutionelle Design des künftigen syrischen Staates ist noch vollkommen unklar.
Mounir Zahran beobachtet den laufenden Prozess mit Interesse: Er sagt, in „jungen“ Demokratien würde die notwendig eintretende Enttäuschung oftmals schnell in eine Enttäuschung über das ganze neue System umschlagen. Den Bürgerinnen und Bürgern fehle die Erinnerung an bessere Zeiten, um die Enttäuschungen abzufedern. Beispiele seien Tunesien oder Ägypten nach dem Arabischen Frühling.
In Syrien sei allerdings bemerkenswert, so Zahran, wie stark sich die Zivilgesellschaft gerade einbringe, und wie sehr in dieser die Fähigkeit verbreitet sei, Kompromisse zu schließen. Vielen Menschen ist – nach einem Jahrzehnt des Bürgerkriegs – bewusst, dass das kommende Staatsgefüge möglichst viele Akteure einschließen muss, dass es Minderheitenrechte achten und die Kompetenz entwickeln muss, mit Frustrationen konstruktiv umzugehen.