Wenn Bauern zu Opfern von Verbrechen werden
Strafrechtlerin Kirstin Drenkhahn befasst sich in einer Studie mit einem wenig beachteten Forschungsfeld: Der Kriminalität im ländlichen Raum
27.11.2024
Nein, es geht hier nicht um „Mord mit Aussicht“ oder irgendeine andere Krimiserie auf dem Land, in der gemütlich-liebenswert-tollpatschige Dorfbewohner Delikte begehen, zu denen dann von der ebenso gemütlich-liebenswert-tollpatschigen Dorfpolizei ermittelt wird.
Dass viele bei „Farm-Crime“ zuerst an ARD-Fernsehfilme denken, zeigt aber zumindest eines: wie klischeebehaftet die Vorstellungen sind, die die meisten Menschen sich über das Leben auf dem Land und erst recht über die Kriminalität dort machen. Kriminalität, das ist in der Forschung – wie auch im politischen Diskurs und im Alltagsverständnis – vor allem ein städtisches Phänomen. Wer an Raub, Betrug, Diebstahl oder Mord denkt, der neigt dazu, den urbanen Raum und meist sogar die Großstadt im Sinn zu haben.
Dorf-Delikte
Dabei wohnen rund 20 Prozent der Menschen in Deutschland in Dörfern, im ländlichen Raum. Und selbstverständlich kommt es auch dort zu Delikten, zu Straftaten und Verbrechen gegen Leib und Leben. Nur: Wie sich die Kriminalität auf dem Land von der in der Stadt unterscheidet, dazu gibt es bis jetzt nur sehr wenige gesicherte Erkenntnisse oder wissenschaftliche Untersuchungen. Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Freien Universität Berlin, will das ändern.
Drenkhahn hat deshalb mit ihrem Team begonnen, sich mit der Kriminologie des ländlichen Raums zu beschäftigen. Eine erste Studie zu Straftaten gegen Landwirtinnen und Landwirte ist unter dem Titel „Kriminalität und Viktimisierung auf dem Lande in Deutschland – Die Berliner Farm Crime-Untersuchung“ bereits in einer Fachzeitschrift erschienen.
„Wenn Straftaten auf dem Land passieren, kommt oft die Reaktion, dass die Täter von außerhalb kommen müssen“
In das Forschungsinteresse eingeflossen sein mag die Herkunft der Juristin: Drenkhahn ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sie weiß deshalb aus eigener Erfahrung, was Kriminalität maßgeblich beeinflusst: die Sozialstruktur, sprich die Art, wie man auf dem Dorf zusammenlebt.
Denn das sei bereits ein erster Unterschied zur Stadt, sagt Drenkhahn: je größer die Stadt, desto anonymer das Zusammenleben. Je kleiner das Dorf, desto eher kennt man sich, hat sich gegenseitig im Blick. „Wenn Straftaten auf dem Land passieren, kommt oftmals die Reaktion, dass die Täter von außerhalb kommen müssen“, sagt die Juristin.
Kriminalität auf dem Land ist, genau wie in der Großstadt, naturgemäß zuallererst „Wahrnehmung“ von Kriminalität: Was wird überhaupt als Delikt empfunden? Was wird gemeldet? Oder was wird unter „kommt halt vor“ verbucht?
Die Befragten in der Farm-Crime-Studie – sämtlich Bauern und Bäuerinnen – waren sich dessen bewusst, dass ganz allgemein und abstrakt statistisch im urbanen Raum überproportional viele Straftaten und im ländlichen unterproportional viele verzeichnet werden.
Mit Ausnahme von Delikten wie Brandstiftung – da offenbar Feuerteufel vor allem abgelegene Stallgebäude anzünden – und Umweltdelikten, die sich definitionsgemäß nur da ereignen können, wo es „Umwelt“ in größerem Umfang überhaupt gibt.
Ist Diebstahl „wirkliche“ Kriminalität?
Interessant sind die Ergebnisse der Farm-Crime-Studie beim Delikt „Diebstahl“: Während ganz allgemein gesprochen nur rund die Hälfte der Befragten antwortete, überhaupt je Opfer einer Straftat geworden zu sein, sagten, wenn es konkret um Diebstahl ging, rund 62 Prozent aller Befragten, sie seien bereits „Opfer eines Diebstahls auf ihrem Hof geworden“, schreiben Drenkhahn und ihr Koautor Christoph Nagel: „25 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten“.
Diebstahl ist offenbar etwas, was von vielen Bäuerinnen und Bauern „nicht wirklich“ als Kriminalität wahrgenommen wird, beziehungsweise nur dann, wenn sie direkt darauf angesprochen werden.
Drenkhahn vermutet den Zusammenhang, dass auf einem ländlichen Betrieb naturgemäß sehr viele Gegenstände, seien es landwirtschaftliche Erzeugnisse wie reife Früchte auf dem Feld oder Tiere wie Schafe oder Kühe oder Werkzeug und Maschinen mehr oder weniger ungesichert vorhanden sind. Wenn ein Heuballen verschwindet oder jemand Maiskolben von einem Feld „mitgehen lässt“, dann wird nicht die Polizei gerufen, der Diebstahl taucht dann auch in keiner Kriminalitätsstatistik auf.
Es hat den Anschein, als beginne für viele Landwirte Kriminalität erst bei Gewaltdelikten; Diebstähle wie die oben erwähnten, sehr oft vorkommenden, sind demnach quasi keine „echte Kriminalität“.
Tatsächlich ist die von den befragten Bäuerinnen und Bauern berichtete Quote von 25 Prozent derer, die in den vergangenen zwölf Monaten Opfer eines Diebstahls geworden sind, deutlich höher als der Durchschnitt aller Bürger, der laut einer umfangreichen und repräsentativen Umfrage bei knapp 17 Prozent liegt.
Kirstin Drenkhahn weist darauf hin, dass man sich diese Diebstahlsfälle nicht als Bagatelldelikte vorzustellen hat: „Unter den entwendeten Gegenständen sind Werkzeuge, Ausrüstungsgegenstände, gewiss auch Futter und Düngemittel, die relativ leicht wegzuschaffen sind, aber auch Ersatzteile für große landwirtschaftliche Maschinen, die extrem teuer sind.“ Zu erwähnen seien etwa GPS-Geräte, die von Traktoren gestohlen werden und deren Wert mehrere Tausend Euro betragen kann.
Auffallend sind die Kalküle, die dazu führen, ob jemand einen Diebstahl zur Anzeige bringt: Wenn ein versicherter Gegenstand entwendet wird, ist eine Anzeige notwendig; wenn aber der Wert unter dem Selbstbehalt der Versicherung liegt, ergibt diese ökonomisch keinen Sinn.
Kirstin Drenkhahn und ihr Koautor Christoph Nagel wollen das Feld der „Rural Criminology“ in Deutschland auch nach ihrer aktuellen Studie weiter „beackern“.