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Geschäft mit der Sehnsucht?

Der Historiker Tobias Becker arbeitet an einer deutsch-deutschen Geschichte der Nostalgie im 20. Jahrhundert

12.11.2024

In Nostalgie vereint – oder geteilt? Sehnsucht gab es in beiden Teilen Deutschlands, aber nur die Ostalgie galt als problematisch, von Westalgie war keine Rede.

In Nostalgie vereint – oder geteilt? Sehnsucht gab es in beiden Teilen Deutschlands, aber nur die Ostalgie galt als problematisch, von Westalgie war keine Rede.
Bildquelle: picture alliance - Jörg Carstensen

Wer heute nach einem Berlinaufenthalt vom Flughafen BER zurück in die Heimat reist, kann sich, bevor der Boarding-Aufruf ertönt, im „Ampelmann-Store“ mit Kühlschrank- Magneten im DDR-Design eindecken. Vielleicht hat man während des Hauptstadtbesuchs ja auch schon an einer Trabi-Safari teilgenommen oder in der „DDR Speisegaststätte Pionierlager“ in Prenzlauer Berg mit Rotkäppchen-Sekt angestoßen.

Wer sehnt sich wonach?

In allen drei Fällen hätte man sich an einer konsumistischen Verfallsform von etwas beteiligt, was in den 1990er-Jahren die gerade eben wiedervereinigten deutsch-deutschen Gemüter erregte: an der DDR-Nostalgie, der „Ostalgie“. Wie konnte es sein, dass viele Ostdeutsche ihrer eben untergegangenen DDR nachtrauerten, manche sie vielleicht sogar zurücksehnten?

Doch so einfach ist das mit der Ostalgie nicht: Dass man heute spanischen oder saudischen Touristen den Kauf von Trinkflaschen im Ampelmännchen-Design nicht mehr als antidemokratische „Vergangenheitssehnsucht“ ankreidet, verrät ja schon, dass Nostalgie offenbar ein komplizierteres Phänomen ist. Wer wirft wem Nostalgie vor und warum? Und woraus speist sich die Verve, anderen anzulasten, sie sehnten sich nach einer verklärten Vergangenheit?

Eng verbunden: Nostalgie und Nachkriegsgeschichte

Tobias Becker hat sich bereits in seiner Habilitationsschrift mit der Geschichte der Nostalgie beschäftigt: „Yesterday: A New History of Nostalgia“ ist 2023 bei Harvard University Press erschienen. Auf Deutsch arbeitet er nun nicht einfach an einer Übersetzung, sondern an einer neuen, auf Deutschland fokussierten Geschichte des Nostalgiediskurses, die im Jahr 2026 im Suhrkamp Verlag erscheinen wird.

Becker nennt das Projekt eine „deutsch-deutsche Geschichte unter der Linse der Nostalgie“, die davon ausgeht, dass in der deutschen Nachkriegsgeschichte, während der deutschen Teilung und nach der Wiedervereinigung das Phänomen der Nostalgie eine ganz besondere Rolle gespielt hat.

Anders als oft vermutet handelt es sich bei der Nostalgie um ein sehr „junges“ Gefühl. Auch der Begriff ist nicht so alt, wie seine griechischen Wurzeln nahelegen: Geprägt hat ihn der Schweizer Mediziner Johannes Hofer, der 1688 das Heimweh unter Schweizer Söldnern erforschte und dafür aus den griechischen Worten „nóstos“, Heimkehr, und „algos“, Schmerz, die „nostalgia“ als wissenschaftlichen Terminus für die Sehnsucht nach der Heimat erfand.

Fortschrittsbegriff wird brüchig

Erst sehr viel später – in den 1970er-Jahren – wurde aus dem räumlichen Sehnen ein zeitliches, aus der Wehmut, mit der man an die verlorene Heimat dachte, die Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit: Erst jetzt wird Nostalgie jene „sehnsuchtsvolle Hinwendung“ zu einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt.

Diese moderne Nostalgie unterscheidet sich von der einfachen Verklärung der Vergangenheit, die in der uns bekannten Geschichte seit der Antike die Norm war: Weil ja Geschichte bis zur Moderne immer als Verfallsgeschichte gedacht wurde, als Entfernung von einem Goldenen Zeitalter, zu dem man wieder zurückkehren sollte.

Erst die Moderne ersinnt den Fortschrittsbegriff, die Idee, dass die Geschichte sich nach vorne bewegt und alles immer besser wird, eine unglaublich mächtige Vorstellung, die der westlichen Zivilisation während der kurzen Zeit vom 18. bis ins 20. Jahrhundert die Richtung wies: Das Goldene Zeitalter liegt jetzt in der Zukunft, nicht rückwärts in der Vergangenheit, wie bisher.

Doch dieser Fortschrittsbegriff ist irgendwann brüchig geworden, als immer mehr Menschen daran zu zweifeln begannen, ob er denn wirklich noch trägt: Jetzt schlägt die Stunde der Nostalgie, so wie wir sie heute kennen. Wobei, und das macht Tobias Becker klar, es ja unmöglich ist, als Historiker nachträglich die Gemütslage der Menschen zu erheben: Weshalb er eher eine Geschichte der Nostalgiekritik verfasst als eine reine Gefühlsgeschichte. Was insofern stimmig ist, als wir die besten Belege für Nostalgie von denen haben, die sie ihren Zeitgenossen vorwerfen.

Angefangen hat das in Deutschland in der Bundesrepublik, mit Theodor W. Adorno, der der Nachkriegsgeneration der 1960er-Jahre vorwarf, sie verkläre die „Goldenen Zwanziger“, weil es auf einmal eine Retro-Mode und eine 20er-Revival-Stimmung gab. Die jungen Leute verklärten eine Vergangenheit, von der Adorno wusste: Wer sie tatsächlich erlebt hatte, wollte ziemlich sicher nicht zu ihr zurück.

Im Jahr 1973 kritisierte dann der Spiegel die „Nostalgie“ und das „Geschäft mit der Sehnsucht“ derer, die damals plötzlich die 1950er-Jahre gut fanden, und sorgte so für die Verbreitung des Nostalgiebegriffs in seinem heutigen Sinn.

Becker weist darauf hin, dass dieser Begriff der Nostalgie damals wie heute sehr unterschiedlich verwendet werde: Denn wenn junge Menschen in den 1960ern die Mode der 1920er-Jahre imitierten oder zitierten, dann bedeute das ja nicht, dass sie fänden, damals sei alles besser gewesen als heute. Sondern sie pickten sich als Heutige Versatzstücke heraus, kreierten eine „Retro“- Mode, aber wollten nicht die Vergangenheit als Ganze zurück.

Vergangenheits-Revival

Wie erklärt sich Tobias Becker nun die oszillierenden Nostalgie- Konjunkturen zwischen Ost und West, DDR und Bundesrepublik? Der moderne Nostalgie-Begriff sei im Westen in den 1960ern und 1970ern aufgekommen, sagt Becker, also in den USA, in Großbritannien und dann in Deutschland, im Zuge von Retro-Mode und Vergangenheits-Revival.

In der DDR aber sah man diese angebliche „Nostalgiewelle“ in der Bundesrepublik als Beleg dafür, wie rückwärtsgewandt und vergangenheitsverhaftet die westdeutsche Gesellschaft sei, ganz im Gegenteil zu der der Zukunft zugewandten DDR. Becker sagt: „Im Sozialismus sollte eigentlich gar kein Platz sein für Nostalgie“ – wonach hätten sich DDR-Bürger zurücksehen sollen, ohne dass diese Sehnsucht nicht auch ein Votum gegen den Staat und die neue Gesellschaft gewesen wäre?

Man kann sehen, wie sich diese Logik der Nostalgie nach 1989 spiegelbildlich verkehrt: Auf einmal gibt es in Ost-Deutschland eine angebliche Welle der „Ostalgie“. Weil die Bürger der untergegangenen DDR ihr plötzlich nachtrauerten. Was im Westen sofort als Beleg dafür verstanden wurde, wie vergangenheitsbehaftet sie seien, wie wenig im Heute angekommen. Wieder galt: Im wiedervereiniten Deutschland sollte kein Platz sein für Ostalgie – denn wonach sollte man sich denn jetzt bloß zurücksehnen wollen? Eigentlich wird also, wenn über Nostalgie gestritten wird, um einen umkämpften Fortschritt gerungen.