Anti-Aging für das Immunsystem
Charité-Forschende um Ursula Müller-Werdan untersuchen die Auswirkungen, die das Älterwerden auf das Immunsystem hat
27.11.2024
Gesund altern, körperlich wie mental – wer will das nicht? Bei Klassentreffen zeigt sich, dass Älterwerden ein sehr individueller Prozess ist: Zwischen den Schulkameradinnen und -kameraden von einst scheinen „faltenmäßig“ mitunter etliche Jahre zu liegen.
„Ist das Hautbild schon recht alt, ist davon auszugehen, dass auch die inneren Organe bereits stark gealtert sind. Denn die meisten Teile des Körpers verändern sich im Wesentlichen synchron“, sagt Professorin Ursula Müller-Werdan. Sie ist Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Ärztliche Leiterin des Evangelischen Geriatrie-Zentrums in Berlin-Wedding. Ihr Interesse gilt einem ganz speziellen Organ, das man als solches eigentlich gar nicht wahrnimmt. Denn es ist regelrecht über den ganzen Körper verstreut – das Immunsystem.
Während bei der Alterung von Leber, Nieren oder Herz Lebensführung und Genetik wichtige Rollen spielen, kommt beim Immunsystem eine dritte Kraft dazu: die Anzahl und Schwere der Attacken, die es im Laufe des Lebens abwehren musste. „Je mehr Parasiten, virale oder bakterielle Infektionen und chronische Erkrankungen, wie etwa Tuberkulose, ein Mensch durchlebt, desto stärker nutzt sich seine Immunabwehr buchstäblich ab“, erklärt Ursula Müller-Werdan.
Noch gibt es keinen konkreten standardisierten Messwert, um festzustellen, wie der aktuelle Stand des Immunsystems eines Menschen ist. Vermutlich ist es ein Muster aus diversen Blutwerten. Aber würde es überhaupt etwas nutzen, wenn es einen solchen Marker gäbe? „Ja, denn er würde klinische Entscheidungen beeinflussen. Man könnte zum Beispiel besser abschätzen, wie hoch das Infektionsrisiko ist, wenn man einem betagten Menschen ein künstliches Gelenk einsetzt und entsprechend vorbeugen“, erläutert die Medizinerin.
Immunologisches Gedächtnis
Studien an Hundertjährigen zeigen, dass sie eine besondere Immunausstattung besitzen. Im Grundsatz altert das Immunsystem bei Männern früher als bei Frauen. Und, nein, den vermeintlich unsagbar heftigen „Männerschnupfen“ entschuldigt das natürlich nicht.
Bei Frauen schwächelt das Immunsystem erst nach den Wechseljahren. „Die Ursache dieses sexuellen Dimorphismus liegt darin, dass das weibliche Immunsystem darauf ausgelegt ist, Schwangerschaften, Entbindung und Wochenbett zu tolerieren“, erklärt die Forscherin. Ein Vorteil, den Frauen allerdings mit deutlich mehr Autoimmunkrankheiten wie Rheuma, Multipler Sklerose oder einer chronisch entzündeten Schilddrüse bezahlen.
Neben dem angeborenen Immunsystem, das unspezifisch auf Reize aller Art reagiert, gibt es das sogenannte erworbene „adaptive“ Immunsystem, das nach Kontakt mit Krankheitserregern ein immunologisches Gedächtnis bilden kann.
Die dritte – eigentlich aber allererste – Barriere gegen Krankheitserreger ist das Epithel. Also die Körperhaut, die Schleimhäute in Darm, Nase und Mund. Mit zunehmendem Alter trocknen sie immer mehr aus und büßen dadurch ihre Schutzfunktion teilweise ein. Insbesondere die adaptive Immunantwort wird mit zunehmendem Alter schwächer. Um das auszugleichen, erhält die Generation 60 plus unter anderem den Influenza-Impfstoff in höherer Dosis.
Lymphozyten und Monozyten
Für das Immunsystem sind im Wesentlichen zwei Zelltypen zuständig. Zum einen die kleinen, immungedächtnisbildenden Lymphozyten, zum anderen die evolutionär älteren Monozyten: große weiße Blutzellen, die sowohl entzündungshemmende wie entzündungsfördernde Substanzen, sogenannte Zytokine, freisetzen.
Die Monozyten reagieren hitzig bei jedem noch so kleinen Alarm. Ob bei Sonnenbrand, Insektenstich, einer Schnittverletzung oder Infektion: Um Schaden abzuwenden, entfachen sie eine Entzündung, die sie dann aber auch wieder selbst beenden. „Mit zunehmendem Alter nehmen Entzündungsreaktionen im Körper zu, weil die Monozyten nun dauerhaft aktiver sind und im Verhältnis mehr entzündungsfördernde Zytokine ausschütten“, sagt Ursula Müller-Werdan. Infektionen dauern deshalb bei älteren Menschen häufig länger und klingen langsamer ab als bei jüngeren.
Zu den mehr als 20 über Drittmittel finanzierten Forschungsprojekten des Instituts gehören unter anderem die Arbeiten des Teams von Kristina Norman, die die Zusammenhänge zwischen vermehrt auftretenden Entzündungen und Effekten an anderen Organen untersucht. „So konnten wir zeigen, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Entzündungsaktivität und dem Vorhofflimmern – also einer Herz-Kreislauf-Erkrankung.“
Weniger Krankheiten sind gut
Lässt sich das Altern des Immunsystems beeinflussen? Also gibt es so etwas wie „Anti-Aging“ für das Immunsystem? Der wichtigste Faktor, um die sogenannte Immunseneszenz zu verlangsamen, sei die Vermeidung von Krankheiten, sagt Ursula Müller-Werdan. „Denn jede Krankheit, die ich nicht bekomme, ist gut für mein Immunsystem.“ Aber unter anderem auch Tabakrauch und psychische Belastungen begünstigen das Immunoaging.
Trotz geringerer Immunantwort sollte man nicht auf Impfungen verzichten. „Im Gegenteil!“, betont die Medizinerin. „Jährliche Impfungen gegen Influenza und Corona sind ab 60 Jahren ebenso wichtig wie die einmalige gegen Pneumokokken und die Doppelimpfung gegen Gürtelrose.“
Ursula Müller-Werdan ist selbst Kardiologin und empfiehlt nicht ohne Grund, sich am Impfkalender der Ständigen Impfkommission zu orientieren: Placebo-kontrollierte Studien an Herz-Kreislauf-Patienten haben gezeigt, dass gegen Influenza Geimpfte seltener Schlaganfälle und Herzinfarkte erleiden als Ungeimpfte.
„Betagte Grippe-Erkrankte versterben ja weniger an der eigentlichen Infektion. Sondern daran, dass Gefäßverkalkungen aufbrechen und dies zu sekundären Effekten auf das Herz-Kreislauf-System führt.“ Das gilt offenbar auch für eine Corona-Infektion zu gelten. Mehr noch: Tierversuche deuten inzwischen darauf hin, dass Corona-Infektionen generell die körperliche Alterung beschleunigen.
Auch über den Lebensstil lässt sich Einfluss auf das Immunoaging nehmen. Praktischerweise sind es dieselben Dinge, die auch die Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz mindern: gesunde, überwiegend pflanzenbasierte Ernährung, guter Schlaf, Bewegung und die Vermeidung von Bluthochdruck, starkem Übergewicht, zu viel Cholesterin und Tabakkonsum. Prävention ist alles, um das Immunsystem in Schuss zu halten.