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Einen Roman lesen. Oder lesen lassen?

Frank Fischer ist Professor für Digital Humanities an der Freien Universität. Ein Porträt mit Hackathons, Team-Arbeit und einer ganz besonderen KI

16.04.2024

Im Exzellenzcluster „Temporal Communities“ an der Freien Universität trifft Friedrich Hölderlin auf KI.

Im Exzellenzcluster „Temporal Communities“ an der Freien Universität trifft Friedrich Hölderlin auf KI.
Bildquelle: picture alliance / greatif

Man kann davon ausgehen, dass Frank Fischer sich auch dann, wenn es gar keine Digital Humanities gäbe, neue, unerwartete Zugänge zur Erforschung von Literatur ausdenken würde. Friedrich Hölderlin kann ein Lied davon singen.

Denn lieber als einen der kanonischsten deutschen Dichter biografisch nachfühlend einzuordnen oder auszuklügeln, was er denn wohl eigentlich mit diesem oder jenem Gedicht genau sagen wollte, hat Fischer Hölderlin als KI nachgebaut. Das war schon 2017, also weit vor ChatGPT, aber nach demselben Prinzip der neuronalen Netze: Die Hölderlin-KI spuckt Gedichte aus, im Stile von Hölderlin. „Mich schweigen, der Sterne sich bewinnen,/ Daß sie die blühende Liebe streun,/ Schöner Gestalt, wie der Tage sich,/ Voll Engelsauge du,/ Da war ich die Winke der Liebe der Seele,/ Und der Himmlischen erste Natur.“ Das ist nicht von Hölderlin, aber der Sound und der Satzbau, für Heutige hart an der Unverständlichkeit, der Hölderlin eigen ist, ist doch ziemlich gut getroffen. Machte sich Fischer damit bloß einen Spaß aus Hölderlin? Oder glaubt er, dass man am gefakten Hölderlin über das Original etwas Neues entdecken könnte?

Seit 2022 ist Frank Fischer Professor für Digital Humanities an der Freien Universität, sein Büro liegt in der „Goldlaube“, dem Gebäude des Exzellenzclusters „Temporal Communities“. Zuvor war er Direktor von DARIAH-EU, was für „Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities“ steht, und Assistant Professor for Digital Humanities an der Higher School of Economics in Moskau. Noch davor, da gab es noch gar keine Digital Humanities, hat er zugleich Literaturwissenschaft und Informatik in Leipzig studiert, aber noch ohne das eine mit dem anderen zu verbinden.

Wie würde er beschreiben, was Digital Humanities ausmacht? „Das ist einmal eine Erweiterung des Methodenspektrums“, sagt Fischer. „Dass man also jetzt computergestützt auf eine Art Texte analysieren kann, wie das vorher schlichtweg nicht möglich war. Etwa was die Skalierbarkeit angeht: Eine Analyse von mehreren Tausend Romanen oder Dramen, das geht nur mithilfe von digitalisierten Methoden.

Frank Fischer hat seit 2022 die Professur für Digital Humanities am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin inne

Frank Fischer hat seit 2022 die Professur für Digital Humanities am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin inne
Bildquelle: privat

„Aber“, sagt Fischer, „auch das epistemische Objekt, der Forschungsgegenstand, verändert sich dadurch, dass er in digitalisierter Form vorliegt.“ Man kann sich das verdeutlichen, wenn man sich ein exemplarisches Projekt, bei dem Fischer federführend ist, ansieht: DraCor (Drama Corpora Project), eine Internet-Plattform, die derzeit 26 Dramen-Korpora umfasst. „Es sieht aus wie eine Website, ist aber eher eine literaturwissenschaftliche Infrastruktur. Insgesamt sind darin rund 3800 Theaterstücke in 19 Sprachen versammelt, von Aischylos bis zur Copyright-Grenze“, erläutert Fischer. „Die Texte sind digitalisiert aufbereitet und damit erforschbar gemacht, für alle zugänglich und analysierbar.“ 

Jetzt kann man darin Strukturen analysieren und visualisieren, zum Beispiel die Beziehungsnetzwerke zwischen den Figuren: „Die Hermannsschlacht“ von Heinrich von Kleist etwa wird da zum wild und dick gestrickten Netzwerk zwischen den Hauptfiguren Hermann, Thusnelda und Varus. Arthur Schnitzlers „Reigen“ hingegen erscheint wie ein dünnes rundes Kettengeflecht aus sich fast nicht berührenden Reifen.

Wie kann man sich Frank Fischers tagtägliche Arbeit als Wissenschaftler vorstellen? Seine Zeit teilt sich ungefähr hälftig auf zwischen Lehre und der Forschung im Exzellenzcluster. Lehre, das meint vor allem Einführungsvorlesungen und Seminare, die Studierenden den aktuellen Stand der Digital Humanities nahebringen. Die Forschung klingt eher nach Arbeit im Labor als in einer herkömmlichen geisteswissenschaftlichen Bi-
bliothek. 

„Digital Humanities bedeutet Teamarbeit, immer schon“, sagt Frank Fischer. „ Wir haben natürlich unsere Langzeit-Leuchtturm-Projekte. Aber wir machen auch immer wieder kleinere Projekte zwischendurch. Man kann sich das so vorstellen: Wir tauschen uns aus, dann kann daraus schnell ein Hackathon werden, jemand hat eine Idee, dann finden sich vielleicht zwei weitere Leute, die etwas dazu beisteuern, man schreibt einen Programmcode und baut eine App, und ein paar Monate später präsentiert man die Ergebnisse auf einer Konferenz und hat ein Peer-review-Paper.“ 

Weder von der Geschwindigkeit noch von der Art der Zusammenarbeit ist das etwas, das in den traditionellen Geisteswissenschaften der Normalfall ist.

Exemplarisch arbeitet Fischer diese noch junge Art des Forschens im Quadriga-Projekt aus, in dem er – finanziert vom BMBF – mit anderen Institutionen aus Berlin und Brandenburg kooperiert. Ziel ist die Veröffentlichung von sogenannten Open Educational Ressources: also exemplarische Fallstudien, um Studierende und Promovierende mit digitalen Methoden bekannt zu machen.

Unterhält man sich länger mit Frank Fischer, dann bemerkt man einen formalistischen Zug, der sich durch sein Verständnis der Digital Humanities zieht, und einen Anspruch, den Kanon in einen neuen Kontext zu stellen. 

„Wenn ,close reading‘ ganz nah an einen Text heranzoomt, dann zoomen die Digital Humanities ganz weit weg, bis sie Hunderte oder sogar Tausende Texte auf einmal in den Blick nehmen können. Dabei werden Strukturen, Parallelen, Wechselwirkungen sichtbar, die man sonst gar nicht erfassen könnte.“

Was Hölderlin zu alldem sagen würde? „Schattig bedenk der Weisheit zu der Wilde/ Gestalten, im geschiedenen Strahle.“ Mag sein, aber war das nun der echte oder der digital generierte?