„Wir müssen mit einem drastisch beschleunigten Artensterben rechnen“
Biologische Vielfalt ist für stabile Ökosysteme wichtig. Thomas Borsch, Direktor des Botanischen Gartens Berlin, erklärt, wie sich Forschende weltweit für den Erhalt der Biodiversität einsetzen
26.09.2024
Herr Professor Borsch, die Freie Universität hat 2024 als ihr Jahr der Biodiversität ausgerufen. Welchen Stellenwert hat das Thema bei Ihnen am Botanischen Garten Berlin (BO)?
Als internationales Wissenszentrum für Botanik sind wir Mitinitiator des internationalen Programms World Flora Online (WFO). Es hat sich seit vier Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die globale Artenvielfalt und den Gefährdungsstatus aller Landpflanzen dynamisch zu erfassen und in einem Online-Portal vollständig abzubilden.
An diesem Thema arbeitet der Botanische Garten Berlin aber schon seit mehr als 200 Jahren: Carl Ludwig Willdenow, von 1801 bis 1812 Direktor des Gartens, überarbeitete zwischen 1797 und 1810 das Hauptwerk des großen schwedischen Naturforschers Carl von Linné, „Species Plantarum“. Dabei erweiterte er den Kosmos der bekannten Pflanzenarten von 6000 auf 14.000.
Fast 100 Jahre später legte Heinrich Gustav Adolf Engler, er war Direktor von 1889 bis 1921, mit „Die natürlichen Pflanzenfamilien nebst ihren Gattungen und wichtigeren Arten, insbesondere den Nutzpflanzen“ wieder ein Monumentalwerk vor. Die 23 Bände entstanden ab 1887 in internationaler Kooperation und hatten den Anspruch, eine Gesamtdarstellung der Landpflanzen zu bieten. Diese Bände waren also gewissermaßen ein Vorläufer von World Flora Online.
Thomas Borsch, Professor für die Systematik und Geografie der Pflanzen an der Freien Universität und Direktor des Botanischen Gartens Berlin
Bildquelle: Nils Köster
Was genau ist dann das Neue an WFO?
WFO wurde ursprünglich gar nicht aus der Wissenschaft heraus entwickelt. Der Bedarf entstand aus der „Globalen Strategie zum Schutz der Pflanzen“, die durch die UN-Konvention über die biologische Vielfalt 2002 formuliert wurde. Diese Strategie formuliert 16 Ziele für den Erhalt der Artenvielfalt der Landpflanzen, nicht zuletzt wegen ihrer Bedeutung als primäre Produzenten in allen Land-Ökosystemen.
Das erste Ziel bestand darin, bis zum Jahr 2010 eine Liste der bekannten Pflanzenarten zu erarbeiten. Bis 2020 sollte dann eine ständig aktualisierte, frei zugängliche und verlässliche Datenbank mit allen bekannten Pflanzenarten der Welt in internationaler Kooperation aufgebaut werden. Und das wurde WFO.
Das heißt auch, dass WFO Teil des Arbeitsprogramms des globalen Biodiversitätsrahmens ist. 52 Botanische Gärten und weitere wissenschaftliche Institutionen sammeln und aktualisieren seit 2020 die Klassifikation und Benennung aller bekannten Landpflanzenarten, und sie untersuchen deren Verbreitung und Gefährdung. Vor allem erforschen sie die genaue Umschreibung von Arten. Dies geschieht in sogenannten TENs, „Taxonomic Expert Networks“, deren Vorläufer, wie etliche andere Aspekte von WFO, wir hier am Botanischen Garten Berlin entwickelt haben. Diese Forschungsgruppen sind gewissermaßen das Rückgrat von WFO. Sie versammeln die Expertinnen und Experten für die jeweiligen Pflanzenfamilien aus der ganzen Welt – das ist eine Neuheit in internationaler Forschungskooperation.
Schaut man sich auf WFO um, dann liest man in den News immer wieder lange Listen von Namen, die jüngst aktualisiert wurden. Was genau wird dort auf den neuesten Stand gebracht?
Die Aktualisierungen sind entweder durch Neuentdeckungen nötig oder durch Neuzuordnungen von Arten. Denn die Taxonomie, also die Wissenschaft, die sich mit den Verwandtschaftsverhältnissen von Arten und deren Klassifikation und Benennung befasst, befindet sich derzeit in einem massiven Umbruch.
Inwiefern in einem Umbruch?
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Arten auf der Basis ihrer Morphologie, also ihrer Form und inneren Struktur, beschrieben und gruppiert. Seit 20 Jahren steht uns die Möglichkeit zur Verfügung, diese Klassifikationen und die daraus resultierenden Verwandtschaftsverhältnisse in großem Stil genetisch zu überprüfen.
Wir betrachten die Benennung und Beschreibung einer Art als eine Hypothese, die wir durch die Methoden der Phylogenetik testen. Dadurch kommen zu den etwa 2000 jährlich neu beschriebenen Blütenpflanzenarten noch einmal etliche Neuzuordnungen von Arten zu Gattungen und neue Umschreibungen von Arten hinzu. Bisher wurden erst etwa fünf Prozent der Arten so überprüft.
WFO verbindet außerdem zum ersten Mal systematisch die Autorinnen und Autoren von Taxa, also die Namen derjenigen Personen, die Organismen wissenschaftlich beschrieben und klassifiziert haben mit den Einträgen in die globale Artenliste. Dadurch werden endlich auch in der Taxonomie Informationen rückverfolgbar. Und die Autorinnen und Autoren sind sichtbar und zitierfähig – das ist die zentrale Währung für wissenschaftliche Anerkennung und den Austausch. Das Ganze ist maschinenlesbar, was für das Management von Biodiversitätsdaten essenziell ist.
Vielleicht am wichtigsten aber ist WFO als Informationsbasis für die Erhaltung und Wiederherstellung der Artenvielfalt der Landpflanzen: Die Vertragsstaaten der UN-Konvention über die biologische Vielfalt und des Globalen Biodiversitätsrahmens und auch ihre Umweltressorts haben Berichts- und Monitoringpflichten. Um diese zu erfüllen, müssen sie wissen, welche Arten mit welchem Gefährdungsstatus wo vorkommen. Nur so ist es möglich, Maßnahmen zielgenau zu planen und umzusetzen. WFO stellt diese Daten aktuell und verlässlich bereit.
Warum ist Biodiversität so wichtig?
Die Schöpfung der Evolution über 3,5 Milliarden Jahre ist ein Wert an sich. Biologische Vielfalt ist darüber hinaus unmittelbar kulturbildend. Ohne sie gäbe es die Mannigfaltigkeit menschlicher Zivilisation nicht, das kann man sich schon am Beispiel unterschiedlicher Landesküchen klarmachen.
Die genetische Vielfalt innerhalb von Arten sorgt für Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Umweltbedingungen. Biodiversität strukturiert Lebensräume und garantiert die Stabilität von Ökosystemen.
Unterscheidet sich das Verschwinden der Pflanzenvielfalt von der Krise der Insektenvielfalt?
Das Verschwinden der Pflanzenvielfalt ist nicht minder dramatisch als das der Insekten. Die Krise der Insektenvielfalt ist von Medien intensiv aufgegriffen worden, dies hat die Problematik besonders ins Blickfeld der Öffentlichkeit gebracht. Aber letztlich sind alle Arten von der Krise der Biodiversität betroffen. Gut 30 Prozent der in Deutschland vorkommenden Pflanzenarten gelten als gefährdet.
Und das Artensterben beschleunigt sich mit dem zunehmenden Verlust naturbelassener Landschaft zum Beispiel durch intensive Landnutzung. Das Ganze gewinnt dann noch an Brisanz, wenn es sich um wassergesättigte Böden wie zum Beispiel Moore handelt, die große Mengen an Kohlenstoffdioxid speichern. Wenn hier entwässert und gebaut wird, dann entweicht eine enorme Menge an CO2.
Die Natur funktioniert in der Folge nicht mehr als natürlicher Klimaschützer. Der Verlust der Pflanzenvielfalt ist aber auch deswegen besonders dramatisch, weil Landpflanzen als unsere terrestrischen Primärproduzenten am Anfang der Nahrungskette stehen.
Was bedeutet das konkret?
Durch Photosynthese stellen Pflanzen aus anorganischen Stoffen mithilfe des Sonnenlichts organische Stoffe her. Sie ernähren damit andere Arten und sind die Grundlage für irdisches Leben, wie wir es kennen. Stirbt eine Art aus, die vielleicht auch noch eine besonders wichtige Rolle in einem Ökosystem spielt, bricht in der Folge häufig das ganze System zusammen. Der Schutz der Vegetation im Sinne der natürlichen Gemeinschaften muss daher am Anfang jeder Biodiversitätsstrategie stehen.
Was sind zukünftige Ziele und Herausforderungen für WFO und für den Erhalt der Artenvielfalt?
Für die Umsetzung der Ziele des Globalen Biodiversitätsrahmens bis 2030 ist es sehr wichtig, die Datenbank kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu vervollständigen. Nur, wenn wir das Vorkommen und den Gefährdungszustand von Arten kennen, können wir auch potenzielle Schutzgebiete identifizieren. Auch für die Kontrolle der nationalen Umsetzung der Biodiversitätsziele ist das Programm World Flora Online unerlässlich.
Die größte Herausforderung dabei, Biodiversität zu erhalten und wiederaufzubauen besteht aber darin, global und national wissenschaftsbasierte Ansätze in allen Bereichen zu formulieren und diese Vorhaben umzusetzen. Diese müssen weit über den auch in Deutschland grassierenden, gutgemeinten Aktionismus hinausgehen. Gelingt dies nicht – und momentan sieht es kaum danach aus – müssen wir mit einem dramatischen und durch den fortschreitenden Klimawandel noch drastisch beschleunigten Artensterben rechnen, mit für uns heute unvorstellbaren Folgen für die menschliche Zivilisation.
Die Fragen stellte Susanne Fuchs.
Weitere Informationen
Die Konvention der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt von 1992 ist der erste internationale Vertrag über den Schutz der biologischen Vielfalt. Die zurzeit 196 Vertragsstaaten sind verpflichtet, nationale Strategien und Aktionspläne zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt zu entwickeln und umzusetzen. Gesteuert wird die Konvention durch eine Vertragsstaatenkonferenz, die regelmäßig die Fortschritte der Umsetzung der Ziele überprüft und neue Maßnahmen und Vertragsprotokolle beschließt. Dazu gehören die Globale Strategie zum Schutz der Pflanzen 2002 und der Globale Biodiversitätsrahmen 2022. Letzterer ist ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag über den Schutz und die Wiederherstellung der Artenvielfalt. Er setzt 23 Ziele bis 2030, zu diesen gehört es, mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen zu schützen, degradierte Ökosysteme wiederherzustellen und die Umweltverschmutzung zu verringern.