Hat das Anthropozän noch eine Chance?
Geologie-Professor Reinhold Leinfelder im Gespräch über das Ausrufen eines neuen Erdzeitalters
24.05.2024
Hat sich die Erde durch Eingriffe des Menschen so stark verändert, dass wir von einem neuen Erdzeitalter sprechen müssen? In der Geologie wird diese Hypothese seit mehr als 20 Jahren diskutiert. Die Ausrufung des sogenannten „Anthropozäns“ schien unmittelbar bevorzustehen — doch nun wurde der Vorschlag von der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS) überraschend abgelehnt. Reinhold Leinfelder ist emeritierter Professor für Geologie der Freien Universität und einer der führenden Vertreter der Anthropozän-Hypothese. Ist die Idee gescheitert?
Herr Professor Leinfelder, Sie sind seit 2012 Mitglied der Anthropocene Working Group (AWG) und haben die Anthropozän-Hypothese über Jahre wissenschaftlich begleitet. Wie bewerten Sie die Entscheidung der ICS, den Vorschlag abzulehnen?
Es kam für uns alle sehr überraschend. Unsere Arbeitsgruppe war selbst Teil der ICS, und wir haben über zehn Jahre lang sehr vertrauensvoll mit dem Gremium zusammengearbeitet. Dort hat man uns in unserer Arbeit immer wieder angeregt und bestärkt. Erst im vergangenen Jahr konnten wir einen Meilenstein verkünden — wir haben den Crawford Lake in Kanada als Referenzort für das Anthropozän bestimmt. Wir konnten zeigen, dass sich ab 1950 die Spuren des Industriezeitalters deutlich in der Erde ablesen lassen. Auf dem Internationalen Geologischen Kongress im koreanischen Busan sollte im August dieses Jahres dann das Abstimmungsergebnis verkündet werden, ob wir die Anthropozän-Hypothese als wissenschaftlichen Konsens akzeptieren — und damit eine neue erdgeschichtliche Epoche ausrufen. Doch dann lehnten die Gremien des ICS unseren Vorschlag ohne weitere Diskussion schon jetzt ab. Die AWG wurde über diese Entscheidung nicht direkt informiert, wir mussten aus der Presse darüber erfahren.
Mit welchen Argumenten wurde der Vorschlag abgelehnt?
Mitglieder der ICS erklärten, dass sich die Stratigraphie mit der Vergangenheit zu beschäftigen habe. Mit viele Millionen Jahre alten Ablagerungen in den tieferen Gesteinsschichten der Erde — nicht wie wir, die Verfechter des Anthropozäns, mit den Spuren, die der Mensch in den vergangenen 70 Jahren hinterlassen hat. Einige, die den Vorschlag ablehnten, plädierten auch dafür, eher von einem geologischen „Event“ zu sprechen als von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche. Sie halten den Einfluss des Menschen für vergleichbar anderen langen Episoden der Erdgeschichte, wie zum Beispiel die mehrere 100 Millionen Jahre dauernde Entwicklung von Sauerstoff, den großen Sauerstoff-„Event“ vor 2,5 Milliarden Jahren. Tatsächliche „Events“ sind allerdings kurzfristige Sturmablagerungen, Aschelagen von Vulkanausbrüchen oder Ähnliches, also beides nicht mit einer erdgeschichtlichen Epoche vergleichbar.
Können Sie das nachvollziehen?
Ich denke nicht, dass der Begriff eines „Events“ ausreicht, um die massiven Veränderungen zu beschreiben, die die Erde durch Eingriffe des Menschen im industriellen Zeitalter erfahren hat. Diese Veränderungen betreffen eben nicht kurzfristige, oberflächliche Prozesse, sondern sind bereits jetzt tief und dauerhaft in die Erde eingeschrieben. Menschen haben ganze Berge abgetragen, neue Täler geschnitten und Flüsse begradigt. In den Erdschichten finden sich radioaktive Niederschläge aus den Atombombenversuchen, Flugasche aus industriellen Prozessen, „Technofossilien“ wie Plastikpartikel, elementares Aluminium, Beton- und Ziegelreste sowie geochemische Signale aus Landwirtschaft, Industrie und Verkehr. Und natürlich haben wir das Klima verändert und den Meeresspiegel steigen lassen. Selbst wenn wir von heute auf morgen unsere gesamte Lebensweise nachhaltig umstellen würden, wären die Spuren des Industriezeitalters für Hunderttausende von Jahren deutlich sichtbar. Die Eingriffe des Menschen in das Erdsystem lassen sich nicht mit einem Vulkanausbruch vergleichen. Es geht viel eher um einen Vergleich mit dem Meteoriteneinschlag an der Kreide-Paläogen-Grenze vor 66 Millionen Jahren, der auch die Dinosaurier zum Aussterben brachte. Es geht hier nicht um ein „Event“, sondern um den Beginn ein neues geologisches Zeitalter.
Doch ist die Verkündung des Anthropozäns wohl erst einmal blockiert. Wie gehen Sie mit dieser Entscheidung um?
Natürlich ist die Entscheidung des ICS erst einmal ein Rückschlag – vor allem, weil sie aus unserer Sicht nicht ausreichend begründet worden ist. Der Begriff des Holozäns, das Zeitalter, in dem sich die Erde in den letzten knapp 12.000 Jahren befand, kann unsere gegenwärtige Realität nicht länger adäquat beschreiben. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass Entscheidungen über Erdzeitalter stets von heftigen Auseinandersetzungen begleitet wurden. Schon lange, bevor es so etwas wie die wissenschaftliche Geologie überhaupt gab. Sehen Sie sich einmal die Debatte über das Alter der Erde an. Darüber wurde Hunderte Jahre lang gestritten, ehe man erst in den 1950er Jahren zur heutigen absoluten Altersbestimmung von etwa 4,5 Milliarden Jahren gelangt ist. Auch über andere Zeitabschnitte wird bis heute heftig gerungen. Das Pleistozän, also das Zeitalter vor dem Holozän, wurde 2009 umdefiniert. Die übergeordneten Zeitabschnitte, das Tertiär und das Quartär, die viele vielleicht noch aus dem Erdkunde-Unterricht kennen, wurden 2004 offiziell abgeschafft. 2012 wurde der Begriff des Quartärs dann aber rehabilitiert. Auch das Tertiär wollen inzwischen einige wieder zurückholen. Ein Blick in die Geschichte der Geologie legt also nahe, dass auch die Diskussion um das Anthropozän mit der jüngsten Entscheidung keineswegs beendet sein sollte.
Sie planen also weiterzumachen?
Das Anthropozän existiert auch informell. Aber wir werden unsere AWG-Arbeit auch außerhalb der ICS fortführen. Wir werden weitere Studien zum Anthropozän vorlegen, und mit Sicherheit wird eine jüngere Generation in einigen Jahren die Definition einer Anthropozän-Epoche wieder zur Debatte stellen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dann das neue Erdzeitalter auch formal ausrufen werden— in der Geologie können solche Entscheidungen aber eben leider manchmal zwar keine erdgeschichtlichen Zeiträume, aber doch ein halbes Jahrhundert dauern. Doch bereits jetzt erschließt sich mit dem Anthropozän-Ansatz nicht nur für die Erdsystemwissenschaften, sondern auch für viele weitere Disziplinen, darunter die archäologischen, historischen, sozialen sowie Zukunftswissenschaften ein weiteres, bis dato unbearbeitetes gemeinsames Wissensarchiv.