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Wie eng ist zu eng?

Immer mehr Menschen leben in überbelegten Wohnungen. In einem Forschungsprojekt untersuchen Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen ihre Situation

16.02.2024

In deutschen Großstädten steht Mieterinnen und Mietern immer weniger Wohnfläche zur Verfügung.

In deutschen Großstädten steht Mieterinnen und Mietern immer weniger Wohnfläche zur Verfügung.
Bildquelle: picture alliance / Caro Sorge

Über Jahrzehnte bestand in Deutschland ein steter Trend: Der durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnraum wurde von Jahr zu Jahr größer. Seit 2010 etwa ist dieser Trend vorüber. Unter Mieterinnen und Mietern in Großstädten nimmt die Größe der Wohnfläche ab, während immer mehr Wohnungen überbelegt sind: Laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat lebten 2022 mehr als 16 Prozent der städtischen Bevölkerung in Deutschland in einer überbelegten Wohnung – das heißt, in einer Wohnung, in der mehr erwachsene Menschen leben, als es Zimmer gibt. 

Für Fans von „Tiny Houses“ mag das gemütlich klingen, doch die wenigsten würden wohl freiwillig auf so engem Raum leben. Die bisherige Studienlage, die weitgehend deskriptiver Natur ist, legt nahe, dass derartige Wohnverhältnisse mit schlechten Schulleistungen und Problemen mit der mentalen Gesundheit in Verbindung stehen. Eine umfangreiche statistische Auswertung, in der verschiedene Einflussfaktoren berücksichtigt werden, fehle aber noch, sagt Max Steinhardt. Der Wirtschaftswissenschaftler will diese Lücke schließen: Gemeinsam mit seinen Kollegen vom John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität, dem Ökonomen Luca Stella und dem Soziologen Sebastian Kohl, erforscht er die sozialen Hintergründe und Folgen von Wohnraumüberbelegung. Fördergelder kommen von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

Platzbedürfnis ist individuell 

Als Grundlage dienen Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP), für das die Mitglieder von rund 15.000 deutschen Haushalten Jahr für Jahr Fragen zu ihrer Lebenssituation beantworten. Die jüngsten Erhebungsrunden versprechen, besonders interessant zu sein, denn während der COVID-19-Pandemie hätten sich die Platzprobleme vermutlich deutlich verschärft, sagt Max Steinhardt. „Die Wohnungen sind gleich groß geblieben, gleichzeitig haben sich die Bildung der Kinder und die Arbeit in den Haushalt verlagert.“ 

Die Forscher wollen statistisch ermitteln, ob Wohnraumüberbelegung mit dem Einkommen, dem Alter oder dem Geschlecht zusammenhängt. Auch die Anzahl der Kinder, ein Mi­grationshintergrund oder regionale Faktoren könnten eine Rolle spielen. Die Datengrundlage des SOEP erlaubt es zudem, eine große Anzahl möglicher Folgen von Überbelegung zu untersuchen.

Doch auch eine sorgfältige Regressionsanalyse kann nicht errechnen, wie einengend die Bewohnerinnen und Bewohner von überfülltem Wohnraum ihre Situation empfinden. Dass die Gewohnheiten sehr unterschiedlich sein können, legt der internationale Vergleich nahe – in Süd- und Osteuropa beispielsweise stehen den Menschen durchschnittlich viel weniger Quadratmeter zur Verfügung als in Deutschland. Auch ein Blick in die Geschichte verdeutlicht den Wohlstand von heute: „Vor 1914 verzeichneten die Wohnungszählungen in Berlin nur dann eine Überbelegung, wenn in einer Wohnstätte mehr als sechs Personen pro beheizbarem Zimmer lebten“, erläutert Sebastian Kohl. 

Ein zweiter Teil des Forschungsprojektes schließt darum eine Umfrage ein, in der Menschen ihre Wohnsituation einschätzen. Die Forscher vermuten dabei, dass große Unterschiede bestehen. Wie eng sich eine Wohnung anfühlt, so ihre These, hängt von der Referenzgruppe ab, mit der man sich vergleicht. Das können Nachbarn, Freunde, Verwandte oder Familienmitglieder sein – kurz: das Milieu, in dem man sich bewegt.

Ungleichheit ja, Protest nein

Um das herauszufinden, macht das Forscherteam in der Umfrage ein kleines Experiment. Eine Hälfte der Befragten erhält anschauliche Informationen darüber, wie groß oder klein ihre Wohnsituation im Vergleich zum deutschen Durchschnitt ist. In einem Vorgängerprojekt am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, an dem Sebastian Kohl beteiligt war, ist ein Online-Rechner entstanden, der einen solchen Vergleich einfach macht: Mit nur wenigen Klicks lässt sich so beispielsweise ermitteln, wie viel Prozent der Deutschen eine größere Wohnung haben als man selbst. 

Sollte sich die Vermutung bestätigen, wäre das ein wichtiger Hinweis für die Beantwortung der grundlegenden Frage, warum wachsende Ungleichheit nicht zu mehr Protest führt. Denn die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich nicht nur bei Einkommen und Vermögen, sondern auch bei der Verteilung des Wohnraums, zeigte Sebastian Kohl in einer früheren Studie. Gleichzeitig zeigten Studien, dass in der Gesellschaft die Trennung unterschiedlicher Einkommenssegmente zunehme, sagt Sebastian Kohl. „Diese Segregation kann man am Arbeitsplatz, bei Freundschaften und Heiraten beobachten, aber im Wohnungsmarkt ist sie besonders offensichtlich“, sagt der Soziologe. „Vielleicht ist es so, vereinfacht gesagt: Die Armen merken gar nicht, wie weit sie abgehängt worden sind.“

Erste Ergebnisse sollen im Sommer vorliegen. Die Hans- Böckler-Stiftung plant mehrere Workshops, um die Erkenntnisse mit der Fachwelt und Praktikern zu diskutieren. Die Forscher wollen konkrete Vorschläge entwickeln, wie Wohnraumüberbelegung vermieden oder zumindest ihre Folgen abgemildert werden können. Neben den Mietpreisen und dem Neubau von Wohnraum gibt es auch andere Ideen. 

Effizienz durch Tauschbörsen?

Eine Möglichkeit könnte sein, beide Seiten der ungleichen Wohnraumverteilung zusammenzudenken. Denn es gibt auch Wohnraumunterbelegung – die ebenfalls zu Pro­blemen führt. Das zeigten Daten aus der Schweiz, wo viele Menschen in Häusern wohnen, die nach Statistikerdefinition als zu groß für sie gelten sagt Sebastian Kohl: „Die Betroffenen fühlen sich einsamer, bedrückter und nehmen weniger am sozialen Leben etwa in Vereinen teil als andere Menschen.“

Auch in Berlin ist das Phänomen verbreitet. Eltern bleiben in der Regel in den großen Wohnungen oder Häusern, nachdem ihre Kinder ausgezogen sind. „Diejenigen, die bereit sind, die Wohnung zu wechseln, finden wegen der gestiegenen Mieten oft keine kleinere Wohnung zu einem vergleichbaren Preis“, sagt Max Steinhardt.  Eine zentrale Tauschbörse könnte helfen, den verfügbaren Wohnraum effizienter zu nutzen.