„Es ist eine Frage der Haltung“
Schwerpunktthema „Gute wissenschaftliche Praxis“: Zum Auftakt ein Interview mit Vizepräsidentin Professorin Marianne Braig
14.06.2021
Was leitet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Forschung? Wie definieren sie ihr Selbstverständnis, an welchen Prinzipien orientieren sie sich? Marianne Braig, als Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin zuständig für Forschung, im campus.leben-Interview: über Redlichkeit und Transparenz, darüber, dass gute wissenschaftliche Praxis vom ersten Semester bis zur Seniorprofessur alle angeht. Über Vertrauen, Kommunikationskultur und die Verantwortung von Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft.
Frau Professorin Braig, was ist „Gute wissenschaftliche Praxis“?
Unter guter wissenschaftlicher Praxis versteht man ethische Leitlinien und Prinzipien, denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Arbeit verpflichtet sind. Es geht um die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, darum, Erkenntnisprozesse transparent und nachvollziehbar zu machen.
Gute wissenschaftliche Praxis ist ein umfassendes Konzept. Und das Fundament: Denn wissenschaftliche Integrität – diesen Begriff halte ich für sehr passend – ist die Grundlage von vertrauenswürdiger Wissenschaft. So steht es im DFG-Kodex „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“, an dem wir uns mit unserer Satzung orientieren. Diese Integrität zu verletzten, bedeutet, das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse aufs Spiel zu setzen. Das betrifft nicht nur die eigene Arbeit, sondern die aller wissenschaftlich arbeitenden Personen und Institutionen.
Gute wissenschaftliche Praxis ist eine Frage der Haltung. Das Motto im Siegel der Freien Universität fasst es gut zusammen: Veritas verpflichtet uns zu Integrität, Wahrhaftigkeit und Redlichkeit. Justitia bedeutet Fairness, Wertschätzung und Verantwortung gegenüber sich selbst, seiner Wissenschaft und anderen. Libertas verweist auf die Wissenschaftsfreiheit, aber auch auf den Schutz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren Wissenschaftsfreiheit gefährdet ist.
Um welche Leitlinien und Prinzipien, denen Wissenschaft verpflichtet ist, geht es konkret?
Es geht um Leitlinien, in denen etwa auf die kritische Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten von Forschungsvorhaben verwiesen wird, auf die transparente und gewissenhafte Nutzung von Quellen, auf vollständige Dokumentation und sichere Aufbewahrung von Forschungsdaten und -ergebnissen. Aber auch auf die Notwendigkeit des kritischen Diskurses und Ehrlichkeit im Hinblick auf Beiträge anderer.
Anstöße zu guter wissenschaftlicher Praxis kommen nicht nur aus der Wissenschaft oder aus wissenschaftsunterstützenden Einrichtungen. Sie erreichen uns auch in Form von Fragen, über die in der Gesellschaft diskutiert wird und auf die die Wissenschaft, die Universität, reagieren muss.
Können Sie Beispiele nennen?
Das Thema Machtmissbrauch gegenüber Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern ist ein Beispiel, über das zuletzt viel diskutiert wurde. Die Frage etwa: Wie gehe ich mit Abhängigkeitsverhältnissen um? Zitiere ich in einer Arbeit einen Doktoranden oder nur die etablierte Kollegin aus Harvard? Die Themen Tierschutz oder Dual Use – der Missbrauch von Forschungsergebnissen zu schädlichen Zwecken –, Postkolonialismus und Geschlechtergerechtigkeit sowie Diversity sind weitere Beispiele. Da hat die Gesellschaft Sensibilität in die Wissenschaft getragen. Aus der Interaktion mit der Gesellschaft erhalten wir als Universität wichtige Impulse.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die zukünftige Bewilligung ihrer Fördermittel an die rechtsverbindliche Umsetzung ihres Kodexes geknüpft. Das bedeutet auch für die Freie Universität, dass sie die DFG-Leitlinien bis Juli 2022 rechtsverbindlich in eine eigene Satzung überführen und konkret umsetzen muss. Wie ist hier der Stand?
Wir haben unsere bisherige Satzung – die Ehrenkodex-Satzung von 2002 – bereits an den DFG-Kodex angepasst; diese neue Satzung ist am 4. Dezember 2020 in Kraft getreten. Nun sind wir bei der konkreten Umsetzung.
Dazu gehört – und das ist mir in dem Prozess besonders wichtig – die Einrichtung eines Ombudswesens an der Freien Universität: Wir möchten Vertrauens- und Schutzräume jenseits von Betreuungs- oder Hierarchieverhältnissen stärken, in denen über Unsicherheiten, Irritationen und Sorgen im Zusammenhang mit wissenschaftlichem Arbeiten gesprochen werden kann.
Wie sieht das konkret aus?
Entsprechend unserer Satzung werden eine zentrale Ombudsperson sowie eine ständige aus verschiedenen Fächerkulturen zusammengesetzte Untersuchungskommission und an jedem Fachbereich eine dezentrale Ombudsperson, jeweils mit einer Stellvertretung, an die Stelle der früheren Vertrauenspersonen treten. Die Ombudspersonen sind Ansprechpartnerinnen und -partner, die beratend und unterstützend wirken, an die sich Mitglieder der Freien Universität bei Bedarf, Fragen und Nöten vertraulich wenden können.
Vertrauen spielt dabei eine entscheidende Rolle: Die Ombudspersonen sind vollkommen unabhängig und niemandem auskunftspflichtig. Vertrauen ist das Grundprinzip, nach dem wir an der Freien Universität arbeiten.
Wer kann sich an die Ombudsleute wenden – auch Studierende?
Ja, natürlich. Wem sich Fragen in Bezug auf die wissenschaftliche Integrität stellen, wer einen Konflikt in diesem Zusammenhang hat oder wahrnimmt, kann sich entweder an die zentrale Ombudsperson wenden oder an die Person am Fachbereich. Das ist ein Beratungs- und Unterstützungsangebot der Freien Universität für all ihre Mitglieder.
Weil auch gute wissenschaftliche Praxis alle betrifft?
Richtig, vom Erstsemester bis zur Seniorprofessorin und zum Seniorprofessor – gute wissenschaftliche Praxis geht uns alle an, die an einer wissenschaftlichen Einrichtung beschäftigt sind und dort ausgebildet werden. Als Vizepräsidentin für Forschung gehört es zu meinen Aufgaben, den Austausch an der Universität über unsere ethische Grundhaltung strukturell zu befördern; als Lehrende bemühe ich mich, mein Selbstverständnis als Wissenschaftlerin in meinem wissenschaftlichen Alltag zu vermitteln.
Sie lehren als Professorin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität – sprechen Sie mit Ihren Studierenden über das Thema gute wissenschaftliche Praxis?
Ich lasse es in meinen Seminaren oder Vorlesungen einfließen, beispielsweise, indem ich Quellen erläutere und sie einordne, wenn ich eine Abbildung, einen Film, eine Statistik zeige. Da bin ich selbst viel sensibler geworden. Wichtig ist der regelmäßige Austausch über das Thema und dass wir unsere ethische Haltung ständig in die Praxis überführen. Ich weise auf Unterstützungsangebote hin, auf Kurse und Workshops der Dahlem Research School, die allen Promovierenden der Freien Universität offenstehen.
Es wird im Moment viel diskutiert über die Betreuung von Doktorarbeiten, auch an der Freien Universität – welche Rolle spielt Vertrauen in dieser Form der wissenschaftlichen Zusammenarbeit? Und wie viel Überprüfung braucht es schon während der Betreuung?
Hier müssen wir ganz klar festhalten: Die Betreuung einer Arbeit – ganz gleich, ob Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit – beruht auf einem Vertrauensverhältnis zwischen den Studierenden bzw. Promovierenden und den Betreuerinnen und Betreuern. Natürlich wird während des Entstehens einer Arbeit auch das wissenschaftliche Arbeiten geprüft und die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis sind leitend.
Doch die Betreuung selbst ist keine Prüfung. Diese folgt im Rahmen der Begutachtung, wenn das Ergebnis vorliegt. Dabei prüfen die Betreuerinnen und Betreuer der Arbeit, also auch die Doktormutter bzw. der Doktorvater, die Wissenschaftlichkeit und die Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Wenn Verstöße gegen diese Regeln auffallen und diese zu prüfen sind, wenn von einem Verdacht ausgegangen werden muss, wird eine Arbeit auf die Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis hin gelesen. In diesen seltenen Fällen steht dann eher Misstrauen im Vordergrund als Vertrauen.
Im Idealfall besteht eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Betreuenden und Betreuten – die keine in sich geschlossene Welt ist, sondern den Austausch mit anderen, etwa im Kolloquium, einschließt. Ich habe mich immer für Graduiertenkollegs und Graduiertenschulen eingesetzt. Wer dort promoviert, bewegt sich in einer Community, in der man gleichzeitig an unterschiedlichen Dingen arbeitet und sich darüber austauscht.
Davon völlig zu trennen ist eine Überprüfung, die erfolgt, wenn es einen Verdacht auf mögliches Fehlverhalten gibt. Das dann folgende Prozedere ist ebenfalls in der GWP-Satzung festgelegt.
Wie kann die Universität Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler beim Erlernen von guter wissenschaftlicher Praxis unterstützen?
Wir haben unser Angebot an der Freien Universität geprüft und mehrere neuralgische Punkte während einer wissenschaftlichen Laufbahn ausgemacht, an denen stärkere Unterstützung sinnvoll sein kann: zu Beginn des Studiums, denn da werden die Grundlagen gelegt. Dann sollte es einen selbstverständlichen und regelmäßigen Austausch zum Thema „Gute Wissenschaftliche Praxis“ in den Lehrveranstaltungen geben. Der Zeitraum vor einer Abschlussarbeit ist ein weiterer Moment für diese Sensibilisierung ebenso während einer Promotion, bei der Leitung von Forschungsgruppen, im Mentoring, bei der Berufung von Professorinnen und Professoren. Das Thema wissenschaftliche Integrität gehört in Berufungsleitfäden, in Bewerbungs- und Jahresgespräche.
Unser Ansatz ist es, kontinuierlich für die grundsätzliche Verantwortung in der Wissenschaft zu sensibilisieren. Das ist kein Plädoyer für mehr Misstrauen – sondern dafür, Vertrauen zu stärken, Vorsorge zu betreiben und Verantwortlichkeiten klar zu machen.
Sie erwähnen immer wieder, wie wichtig es ist, die Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis im Austausch zu vermitteln. Es geht also auch um die Art, wie in der Wissenschaft, wie in einer Einrichtung kommuniziert wird – auch darum, wie über Fehler gesprochen wird?
Wir müssen offen über Fehler sprechen. Auch das ist eine Frage der Haltung. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als darüber zu sprechen, denn ein kluger Umgang mit unserer Fehlerkultur gehört zur wissenschaftlichen Integrität.
In den Debatten um die Pandemie hat sich gezeigt: Es gibt in der Wissenschaft nicht eine Wahrheit. Erkenntnis setzt sich aus verschiedenen Perspektiven, stückchenweise zusammen, jeder Wissensstand bildet nur einen vorübergehenden Stand ab. Wissenschaft ist das ständige Ringen um Erkenntnis. Da war die Pandemie ein gutes Laboratorium. Diese Selbstreflexion und die Vermittlung, dass wissenschaftliche Integrität auch das ständige Überprüfen der eigenen Arbeit bedeutet, gehören zu unserer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.
Die Fragen stellten Karin Bauer-Leppin und Christine Boldt