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Der unterschätzte Alleskönner

Im Rahmen des Projekts „NATürlich – Schülerinnen treffen Naturwissenschaftlerinnen“ kam eine Schülerinnengruppe ins Gespräch mit einer Chemikerin des neuen Sonderforschungsbereichs „Fluor-Spezifische Wechselwirkungen“

24.01.2019

Franziska Emmerling, eine Wissenschaftlerin der "Fluor-Spezifischen Wechselwirkungen", vermittelt Schülerinnen ihr Forschungsgebiet

Franziska Emmerling, eine Wissenschaftlerin der "Fluor-Spezifischen Wechselwirkungen", vermittelt Schülerinnen ihr Forschungsgebiet
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Was haben Handys, Teflonpfannen, Regenjacken und viele Medikamente gemeinsam? Wer als Antwort eine gute (chemische) Pointe erwartet, wird nicht enttäuscht: Sie enthalten alle Fluoratome. Ein Element, das Experten zufolge mehr Beachtung verdient hat: „Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, Fluor in der Öffentlichkeit präsenter zu machen, weil es den meisten nur in Verbindung mit Kariesverhütung bekannt ist“, betont Carsten Müller. Der promovierte Chemiker ist Wissenschaftlicher Koordinator des an der Freien Universität angesiedelten Sonderforschungsbereichs „Fluor-Spezifische Wechselwirkungen. Grundlagen und Anwendungen", der Anfang Januar seine Arbeit aufgenommen hat.

Das Forschungsprojekt in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin, dem Fritz-Haber-Institut sowie der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zunächst für vier Jahre gefördert. Die Leitung hat Sebastian Hasenstab-Riedel inne, Professor für Anorganische Chemie an der Freien Universität. Die Mitglieder – 29 Promovierende und 3 Postdoktoranden in 21 Arbeitsgruppen – widmen sich zum einen der Erforschung der von fluorierten Verbindungen ausgehenden Wechselwirkungen und wollen zum anderen verstehen, wie sich diese gezielt für neue Anwendungen nutzen lassen.

Gleichzeitig möchte das Forschungsteam Schülerinnen und Schülern sowie der interessierten Öffentlichkeit einen Einblick in die Fluorchemie ermöglichen und über deren Möglichkeiten aufklären. „Fluor spielt in unserem Alltag eine riesige unsichtbare Rolle“, erläutert Carsten Müller. „Das fängt bei der beschichteten Pfanne an und geht bis zu Medikamenten: 30 bis 40 Prozent aller neuzugelassenen Pharmaka werden fluoriert, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen und Nebenwirkungen zu mindern.“ Handy- und Computerbildschirme enthalten fluorierte Flüssigkristalle, Beschichtungen mit einer Magnesiumfluoridschicht finden sich auf Kameralinsen zur Entspiegelung. „Aber auch transparente Wärmedämmungen, wie sie zum Beispiel in der weißen Umhüllung der Allianzarena in München verwendet worden sind, enthalten Fluorierungen. Und das Verlöten der Karosserieteile aus Aluminium in der Autoindustrie funktioniert ebenfalls nur mit bestimmten fluorierten Verbindungen“, erläutert Carsten Müller. Die Europäische Union listet Fluor – beziehungsweise das Mineral Flussspat, das Calciumsalz des Fluorides – als einen der wichtigsten Rohstoffe der Zukunft.

In der Natur kommt das Element in organischer Form so gut wie nicht vor. Auch steckt die Forschung darüber, bei welchen Materialien eine Fluorierung helfen könnte, um bestimmte Eigenschaften zu verbessern, noch in den Anfängen. „Es ist ein bisschen so, als würde man ein Material von Außerirdischen bekommen und versucht nun herauszufinden, was man damit alles machen kann“, sagt Carsten Müller schmunzelnd. Für die fluorchemische Forschung war Berlin von Beginn an ein wichtiger Standpunkt. Seit etwa 200 Jahren ist es eines der weltweit wichtigsten Zentren der Fluorchemie: mit Geologen, Pharmazeuten, Chemikern der Anorganischen und Organischen Chemie.

Lea Dämpfling, Leiterin des Schülerinnenprojekts NATürlich und Franziska Emmerling, die für diesen Abend eingeladene Referentin

Lea Dämpfling, Leiterin des Schülerinnenprojekts NATürlich und Franziska Emmerling, die für diesen Abend eingeladene Referentin
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Besonders wichtig ist dem Team des Sonderforschungsbereichs der Kontakt mit der Öffentlichkeit, auch um Missverständnisse zu entschärfen. „Manche halten Fluorverbindungen und Fluoride generell für giftig. Aber wie immer kommt es auf die Dosis und die Verbindung an. Schon Säuglinge erhalten Natriumfluorid zur Stärkung der Zähne und Frühchen werden mit flüssigen, perfluorierten Kohlenwasserstoffen beatmet, um Lungenschäden zu vermeiden“, sagt Carsten Müller. Um den Alleskönner vorzustellen, bieten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ab dem  kommenden Sommersemester populärwissenschaftliche Vorlesungen an, in denen Forschungsergebnisse erklärt werden sollen. Außerdem kooperieren sie mit dem NatLab, dem Mitmach- und Experimentierlabor für Schülerinnen und Schüler an der Freien Universität. Gerade würden Versuche für einen halbtägigen Experimentierzyklus für Schulklassen entwickelt, sagt Katharina Kuse: „Wir führen zum Beispiel die Brennstoffzelle vor, die bei der alternativen Energiegewinnung eine große Rolle spielt. Ein Bestandteil dieser Zelle ist eine Nafionmembran – aus fluoriertem Kunststoff – die selektiv Protonen durchlässt. Eine solche Membran kann man anschaulich präsentieren“, erläutert die promovierte Chemikerin und Leiterin des Chemiebereichs des NatLab.

Ähnliche Versuche wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen der Sommeruniversität des Schülerlabors präsentieren, hier soll der Fokus auf dem Bezug zur Lebenswelt der Jugendlichen liegen. Der Lotus-Effekt bei Blütenblättern, an denen Wasser abperlt und die Pflanzen dadurch reinigt, kann an sehr rutschigen, fluorierten Oberflächen demonstriert werden. Ein Handy besitzt heute fast jeder, aber viele wissen nicht, dass bei den LCD-Displays fluorierte Flüssigkristalle eingesetzt werden. Auf älteren Bildschirmen zog der Ball bei Fußball-Übertragungen noch einen Schweif nach sich, heute sehen wir ihn auch in Bewegung scharf – denn die fluorierten Kristalle können sich schneller im elektrischen Feld ausrichten als un-fluorierte. Bei der Sommerunversität wird dies etwa durch die Konstruktion einer einfachen LCD-Anzeige erklärt. Auch während der Langen Nacht der Wissenschaften am 15. Juni 2019 werden erste Experimente gezeigt. Speziell für Lehrkräfte sollen generell Fachvorträge mit Hintergrundinformationen zur Fluorchemie stattfinden.

Am vergangenen Donnerstag eröffnete Franziska Emmerling den großen Wissenstransfer mit ihrem Vortrag „Kristallklar – wie Röntgenstrahlen Struktur und Eigenschaften von Materialien erkennen“. Die promovierte Chemikerin und Privatdozentin ist Leiterin des Fachbereichs Strukturanalytik der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung und Teilprojektleiterin des Sonderforschungsbereichs "Fluor-Spezifische Wechselwirkungen". 15 Mädchen aus den Jahrgangsstufen 10, 11 und 12 waren im Rahmen des Projekts „NATürlich – Schülerinnen treffen Naturwissenschaftlerinnen“ in das NatLab in der Dahlemer Fabeckstraße gekommen. Bei diesem im Jahr 2009 eingerichteten Format, das zweimal jährlich stattfindet, tauschen sich die Teilnehmerinnen mit Frauen aus, die in naturwissenschaftlichen Berufen arbeiten und lernen darüber weibliche Rollenvorbilder und deren Berufsfelder kennen.

Anhand von selbst gemalten Illustrationen reflektierte Franziska Emmerling ihren Karriereweg humorvoll: Als Zwillingsschwester habe sie schnell entschieden, sich von Männern nichts sagen lassen zu wollen. Ihr Studium der Chemie sei, vor allem mit den nachmittäglichen Laborkursen, zeitintensiv gewesen, aber auch sehr praxisnah: Vier Wochen Schulstoff würden in einer einzigen Vorlesung gelehrt, erläuterte Franziska Emmerling den Schülerinnen. In ihr Fachgebiet, die Untersuchung von Kristallisationsprozessen und die Analyse von Werkstoffen unter anderem mit Röntgenstrahlen, gab die Chemikerin eine historiografische Einführung, beginnend bei Max von Laue. Dieser durchleuchtete 1912 in Berlin einen Kupfersulfat-Kristall mit der damals noch jungen Röntgentechnik. Damit konnte er die Welleneigenschaften der Strahlen nachweisen und erfand gleichzeitig eine bahnbrechende Methode zur Untersuchung von Festkörpern. Mit Weiterentwicklungen dieser Technik, etwa der Röntgenpulverdiffraktometrie, betrachtet Franziska Emmerlings Forschungsteam heute die Strukturen von Materialien und leitet daraus deren Eigenschaften ab.

Eine anderes Methode, die die Chemikerin täglich einsetzt, ist die Mechanochemie, das älteste chemische Verfahren mithilfe von mechanischer Energie – also schlicht das Mörsern oder Mahlen von Feststoffen. Für die Schülerinnen hatte sie Experimente mitgebracht, um die Synthese von Stoffen veranschaulichen zu können. So wird aus Eisensulfat und Kaliumthiocyanat „künstliches Blut“, aus Eisensulfat und Kaliumhexacyanoferrat „Berliner Blau“. Arbeitsblätter erklären den chemischen Hintergrund. Nele, zurzeit in der 11. Klasse, freute sich über die Möglichkeit, mit der Wissenschaftlerin ins Gespräch zu kommen, vor allem, weil sie sich noch nicht sicher ist, welche Naturwissenschaft sie studieren möchte. Nouran, die im Frühjahr Abitur macht, fand das Treffen mit Franziska Emmerling inspirierend: „Man hat ihre Begeisterung für ihr Fachgebiet wirklich spüren können – das hat mich einmal mehr davon überzeugt, selbst Chemie studieren zu wollen.“

Jennifer Gaschler