Syrische Geschichte in Scherben
Wie die Menschen im heutigen Syrien einst lebten, haben Archäologen anhand einer aufwendigen Ausgrabung rekonstruiert
02.04.2014
Ein Zufallsfund in Kinderhänden, jahrzehntelange Grabungsarbeit, tausende Artefakte – und schließlich der Bürgerkrieg. Nach rund 35 Jahren geht das Forschungsprojekt des Archäologen Hartmut Kühne im syrischen Tell Schech Hamad in diesem Jahr zu Ende. Mit seinem Team hat er das Leben der Menschen in jener Region vor 3000 Jahren bis ins Detail rekonstruiert. Wie stark der Krieg die Ausgrabungen mittlerweile in Mitleidenschaft gezogen hat, ist noch völlig ungewiss.
Eine Schar spielender Kinder war es, die den Stein 1977 ins Rollen brachte: In ihren Händen entdeckten deutsche Wissenschaftler auf einer Expedition in Syrien Bruchstücke beschrifteter Tontafeln. Dabei war die Gruppe eigentlich angereist, um auf den Siedlungshügeln am Fluss Habur archäologische Daten für eine historische Karte der Universität Tübingen zu sammeln.
„Wir haben uns zur Fundstelle der Artefakte führen lassen“, erinnert sich der Archäologe Hartmut Kühne, mehr als 35 Jahre danach. Der damals 34-Jährige ist seit 1980 Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität. „Durch einen frisch von Bauern angelegten Bewässerungskanal waren vollständige beschriftete Tontafeln und Tafelfragmente ausgespült worden.“
Deren nähere Untersuchung förderte schier Unglaubliches zutage: Es fand sich der Nachweis für die Provinzhauptstadt Dur-Katlimmu aus der assyrischen Zeit, über deren genaue Lage und Ausdehnung Wissenschaftler bis dahin keinerlei Anhaltspunkte hatten. „Assyrien war die erste Weltmacht überhaupt, die alle anderen Staaten der Zeit dominierte“, erläutert Hartmut Kühne. Das Reich bildete sich von 1350 v. Chr. an heraus und entfaltete nach 750 v. Chr. für rund 140 Jahre seine größte Macht. Im Jahr 612 v. Chr. zerbrach das Weltreich, und das Babylonische Reich übernahm die politische Vorreiterrolle.
Die Ausgrabung begann 1977
Kühne hat sich diesem Ort in der syrischen Steppe bis heute verschrieben, von 1978 an unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Ziel war es, am Beispiel Dur-Katlimmus die Stadtstrukturen assyrischer Provinzhauptstädte zu analysieren. Nach 35 Jahren ist die Förderung durch die DFG im Dezember 2013 ausgelaufen.
Seit in Syrien Krieg herrscht, werten die Wissenschaftler vor allem Grabungstagebücher aus und publizieren ihre Ergebnisse – ein Dutzend Bände sind bereits erschienen, weitere sieben kommen noch hinzu. Noch bis Ende 2014 wollen sie mithilfe von Rücklagen weitermachen: Sie sichten Kisten voller Scherben und bearbeiten Artefakte. Am Computer werden diese mit den jeweiligen Fundorten verknüpft, sodass sich Funktion und Gebrauch der Objekte untersuchen lassen.
Das Herzstück der Ausgrabung ist das sogenannte Rote Haus. Allein dessen Grabungsareal ist etwas größer als ein Fußballfeld. „Wir gehen davon aus, dass es die Residenz eines hohen Beamten des Königs war, der den Titel ,Vertrauter‘ führte“, erläutert Hartmut Kühne.
Die freigelegten Fundamente und Objekte erwecken die damalige Zeit zum Leben: Die Forscher wissen, wo sich Bäder, Büros, öffentliche und private Räumlichkeiten befanden und können den Alltag darin beschreiben. Hunderttausende Gefäßscherben aus Keramik wurden allein hier ausgegraben: Mehr als 50 000 hat Kühnes Mitarbeiter Janoscha Kreppner ausgewertet.
Der Bürgerkrieg setzte den Grabungen vor Ort ein Ende
Neben eimergroßen Keramiktöpfen, in denen Lebensmittel aufbewahrt wurden, benutzten die Menschen damals Teller, Trinkschalen und Flaschen mit dazu passenden metallenen Saugröhren, Vorläufern moderner Strohhalme. Auch Rückschlüsse über Veränderungen in der regionalen Vegetation, die damalige Ernährung und Lebensumstände lassen die Ausgrabungen zu.
Die Früchte der jahrzehntelangen Arbeit in Tell Schech Hamad wollte Kühne von 2008 an den Menschen in der Region und Touristen zugänglich machen: Der Nordflügel des Roten Hauses wurde saniert. Ein Besucherzentrum und ein archäologischer Park waren geplant. Aber das Jahr 2010 sollte Hartmut Kühnes vorerst letzter Aufenthalt vor Ort werden.
Seitdem der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, ist eine Rückkehr vorerst ausgeschlossen. „Wie stark die Schäden sind, ist für mich nicht ersichtlich“, sagt Kühne. „Ich habe die Hoffnung, dass der unselige Bürgerkrieg bald zu Ende geht und dass das reiche syrische Weltkulturerbe ihn überstehen möge.“
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Eine Langversion dieses Artikels ist in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität erschienen.