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Freiheit ohne offene Zukunft

Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown plädierte in der Hegel Lecture für eine reparierende, korrigierende Demokratie, die durch „tiefes Zuhören“ geprägt ist

10.01.2025

Politikwissenschaftlerin Wendy Brown am Rednerpult im Hörsaal

Wendy Brown ist UPS-Stiftungsprofessorin am Institute for Advanced Study in Princeton, außerdem emeritierte Professorin der University of California in Berkeley.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Das Dahlem Humanities Center der Freien Universität lädt jedes Jahr zur Hegel Lecture ein, bei der schon renommierte Intellektuelle wie Judith Butler, Rosi Braidotti und Victor Stoichita gesprochen haben. Im Dezember hielt die angesehene amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown die 10. Hegel Lecture. Unter dem Titel „Listening for Political Freedom“ fragte sie provokant, ob die liberale Demokratie eine erschöpfte Form sei, unfähig, die Krisen der Gegenwart zu bewältigen. Sie schlug die „reparative democracy“, reparierende, korrigierende Demokratie, vor als Alternative zur liberalen Demokratie und zum demokratischen Sozialismus.

Nach der Begrüßung durch die Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott, stellte Philosophieprofessor Robin Celikates die Rednerin vor: UPS-Stiftungsprofessorin am Institute for Advanced Study in Princeton, emeritierte Professorin der University of California in Berkeley, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher über Identitätspolitik, staatliche Macht und die Auswirkungen des Neoliberalismus auf demokratische Prinzipien.

Politische Theorie aus dem frühen Internet

Celikates erinnerte sich auch daran, wie er in seinen Studientagen die Audiomitschnitte von Browns Vorlesungen über politische Theorie aus dem frühen Internet herunterlud und ihnen trotz schlechter Tonqualität andächtig lauschte. Umso mehr freute er sich, sie nun live zu einem aktuellen Thema zu hören.

Philosphieprofessor Robin Celikates am Rednerpult im Hörsaal

Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie am Institut für Philosophie der Freien Universität, stellte die Rednerin vor.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Wendy Brown begann mit einer düsteren Analyse der liberalen Demokratie: Sie werde von autoritären und neofaschistischen Bewegungen herausgefordert, ihre Institutionen durch Manöver korrumpiert, die die Vorherrschaft weißer Gruppen festigen sollen. Mächtige Technologie-Unternehmer verachteten sie, die Finanzwirtschaft untergrabe sie, der Verlust verlässlicher Medieninformationen schwäche sie – und Bildung werde zunehmend abgewertet.

Interpretiert man diese Entwicklung als „Rückkehr der Unterdrückten“, dann rächt sich nun, dass die liberale Demokratie seit jeher mit dem Kapitalismus verwoben ist und nie echte Volkssouveränität zugelassen hat. Brown führt den Senat und das Electoral College in den USA, das House of Lords in Großbritannien und die Europäische Kommission als Beispiele für Institutionen an, die dazu dienen, sich gegen die Bürger*innen als Souverän abzusichern. Populismus, die Rebellion gegen die Eliten, lasse sich deuten als Reaktion auf undemokratische Regime, die sich als demokratisch ausgeben.

„Nostalgie ohne Plan“ bei der Linken

Die liberale Demokratie werde nicht allein von rechts, sondern auch von links infrage gestellt, weil sie echte Emanzipation verhindere und die weiße Vorherrschaft, Kolonialherrschaft und Versklavung sowie deren Nachwirkungen in sich trägt. Frauenrechte ließen sich kaum mit Fürsorge und sozialer Verbundenheit vereinen, und die liberalen Freiheiten der kapitalistischen Produktion und des Konsums gefährdeten Umwelt und Klima.

Vielleicht, so formuliert sie, ist die liberale Demokratie eine erschöpfte Form, unfähig, ihre eigenen Probleme zu lösen. Während die Rechten bereit seien, sie aufzugeben, verharrten die Linken in einer „Nostalgie ohne Plan“. Es sei an der Zeit, uns von einigen Elementen der Dialektik, des Fortschritts und der Totalität in der Tradition der kritischen Theorie zu verabschieden, die Hegel begründet hat und die sich von Marx bis zur Frankfurter Schule erstreckt.

Panorama des gut besuchten Hörsaals mit Wendy Brown am Rednerpult

Ist die liberale Demokratie eine historisch erschöpfte Form, die nicht in der Lage ist, die Probleme und Krisen der Gegenwart in den Griff zu bekommen?
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Brown zitiert den Soziologen Andreas Folkers, der argumentiert, dass es angesichts des Klimawandels keine offene Zukunft mehr gebe. „Wir werden die Nutzung fossiler Brennstoffe beenden oder sie wird uns beenden“, sagt Brown. Die fossile Moderne präge jeden Aspekt der Zukunft, von der Erwärmung des Planeten bis zu Migration infolge des Klimawandels. Die liberale Demokratie als Staatsform habe ökologische Zerstörung und Ausbeutung ermöglicht, deshalb werde eine Alternative dringend benötigt.

Browns reparative democracy stellt sich den Herausforderungen, die durch die angerichteten Schäden entstanden sind. „Reparative“ Demokrat*innen leben demnach auf einem empfindlichen Planeten mit anderen Spezies zusammen, kein Leben kann abseits des Gemeinsamen gedeihen. Freiheit wird relational, reaktionsfähig und verantwortungsvoll.

„Tiefes Zuhören“ transformiert das Wesen der politischen Freiheit

Zu Wendy Browns reparative democracy gehört auch eine robuste politische Gleichheit, die historische Ungleichheiten – Reichtum, Klasse, Ethnie, Geschlecht sowie Ungleichheiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen – hinter sich lässt. Wie kann das funktionieren? Wie kann man Lebensformen einbeziehen, die bisher von der Demokratie ignoriert wurden, die aber alles Lebendige erhalten: Regenwürmer, Korallenriffe, Bienenvölker?

Brown sieht das Zuhören als Kernstück der „korrigierenden“ Demokratie. Wenn alle Stimmen gleich viel wert sein sollen, erfordert das ein anderes Zuhören. „Tiefes Zuhören“ transformiere demokratische Bürger*innen ebenso wie das Wesen der politischen Freiheit.

Wendy Brown sitzt künstelerisch inszeniert im Sessel zwischen den Gaderobenschränken vor dem Hörsaal

Wendy Brown ist eine der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen der USA und hat zahlreicher Bücher über Identitätspolitik, staatliche Macht und die Auswirkungen des Neoliberalismus auf demokratische Prinzipien veröffentlicht.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Das Versprechen der Demokratie bestehe ja darin, dass wir uns gemeinsam regieren, führt Wendy Brown aus: Politisch frei sind wir nur, wenn wir uns selbst regieren. Traditionell identifiziert demokratisches Denken diese Selbstbestimmung mit der Stimme, woraus sich die große Bedeutung der Rede für die politische Freiheit ergibt: Die Demokratie stirbt, wenn die Sprache stirbt, so habe es schon der altgriechischen Denker Thukydides formuliert. Aristoteles lieferte die philosophische Grundlage, indem er behauptete, dass Politik menschlich sei, weil „der Mensch als einziges der Tiere mit der Fähigkeit der Sprache ausgestattet ist“.

Wenn jedoch die demokratische Staatsbürgerschaft durch die Fähigkeit zur Meinungsäußerung definiert wird, was ist dann mit den Wesen, die nicht sprechen? Wie bringen sie ihre Bedürfnisse zum Ausdruck?

In der politischen Praxis und in der Wissenschaft zeichnet sich eine Betonung des Zuhörens ab: Mehr, besser, anders, tiefer zuzuhören. Diese Tendenz spiegelt sich in den Klangstudien wider, die Geistes- und Naturwissenschaften sowie alte und neue Technologien vereinen, um unser Zuhören zu verfeinern.

Das Recht, gehört zu werden

Das Zuhören war eigentlich auch in der antiken Demokratie verankert, sagt Wendy Brown: Ihre drei Grundpfeiler sind isonomia, die Gleichheit vor dem Gesetz, isopoleteia, die Gleichberechtigung bei Ämtern, und isogoria, das Recht, in der Versammlung zu sprechen und gehört zu werden.

Eben dieses Recht, in der Versammlung zu sprechen und gehört zu werden, isogoria, und parrhesia, die Redefreiheit außerhalb der Versammlung, definieren das politische Sprechen und Zuhören als grundlegend für die Demokratie. Der Liberalismus hingegen habe die freie Rede privatisiert und entpolitisiert, indem er sie zu dem individuellen Recht machte, sich überall zu äußern. Geschützt ist demnach zwar das Recht auf Meinungsäußerung, aber nicht das Recht, gehört zu werden. Die Rede gelte als frei, weil sie als machtlos angesehen werde.

Politikwissenschaftlerin Wendy Brown wartet in der Sitzreihe des Hörsaals auf den Beginn ihres Vortrags

Tiefes Zuhören, betont Wendy Brown, kann Demokratien schaffen, die auf das Überleben und Wohlbefinden von Menschen ebenso wie von nichtmenschlichen Lebewesen achten.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Das Zuhören im Sinne von Wendy Brown beschränkt sich jedoch nicht auf das Hören unterdrückter Stimmen, obwohl dies in einer „reparierenden“ Demokratie notwendig ist. Sprechen und Zuhören sind auch nicht nur die zwei Seiten derselben Medaille. In der reparative democracy wird das Zuhören zu einem Medium des Lernens und der Transformation, zu einer anderen politische Praxis als das Sprechen. Diese Praxis erfordert, nicht zu sprechen und stattdessen aufmerksam zu sein – wie Tiere, die ihre Ohren spitzen, um Beute, Raubtiere oder Gefahr zu erkennen.

Die Komponistin und Aktivistin Pauline Oliveros prägte in den 1970er Jahren den Begriff „deep listening“ – tiefes Zuhören. Tiefes Zuhören, betont Wendy Brown, kann Demokratien schaffen, die auf das Überleben und Wohlbefinden von Menschen ebenso wie von nichtmenschlichen Lebewesen achten, die bisher historisch von der Politik ausgeschlossen waren.

Die meisten Arten lauschen einander, um sich zu koordinieren

Tiefes Zuhören umfasst, was Oliveros als „gleichzeitige fokale und globale Aufmerksamkeit“ bezeichnet: Fokale Aufmerksamkeit richtet sich auf einen bestimmten Klang, während globale Aufmerksamkeit alle Klänge um uns herum einbezieht, einschließlich derer, an die wir uns vielleicht nur erinnern oder die wir uns vorstellen.

An dieser Stelle kehrt Wendy Brown zu Aristoteles zurück, der behauptete, Tiere würden zwar Laute von sich geben, aber nur die menschliche Sprache erlaube es, gemeinsam darüber nachzudenken und zu urteilen, was richtig oder gerecht sei.

Die Naturwissenschaften lehrten jedoch, dass auch nichtmenschliches Leben eine Stimme habe, argumentiert sie. Die meisten Arten – Tiere, Pilze, Pflanzen – lauschen einander, um sich zu koordinieren, Nahrung zu finden oder sich zu verteidigen. Pflanzen reagieren auf das Summen von Bienen, Bäume warnen sich gegenseitig vor Gefahren, Schildkröten kommunizieren durch Vibrationen. Fast alle Tiere hören einander zu, um kollektiv zu gedeihen.

Robin Celikates und Wendy Brown am Rednerpult während der Diskussion mit dem Publikum

Nach ihrem Vortrag diskutierte die Politikwissenschaftlerin mit Zuhörer*innen aus dem Publikum.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Um uns durch tiefes Zuhören in reparierende Demokrat*innen zu verwandeln, müssten wir nicht mit Regenwürmern kommunizieren, betont Wendy Brown. Doch wir müssen ihre Lebendigkeit und die Abhängigkeit unserer Existenz von ihnen erkennen. Indigene Völker hätten eine solche Wachsamkeit und pflegten nicht zufällig nachhaltigere Beziehungen zum nichtmenschlichen Leben.

Die Zuhörfähigkeiten zu trainieren, sei ein revolutionäres Unterfangen. Menschen hören von Natur aus schlecht, führt Wendy Brown aus. Sie haben die Welt mit Lärm gefüllt und das Zuhören gegenüber dem Sprechen abgewertet. Zudem neigen Menschen nicht dazu, das Leben um sich herum wahrzunehmen, sondern konzentrieren sich auf sich selbst, ihre Familie, ihre Klasse, Ethnie und Nation.

Neue Technologien für das Zuhören

Neue Technologien der Bio- oder Öko-Akustik können helfen, diese Grenzen zu überwinden, schlägt sie vor: etwa KI-Algorithmen, die Lebenszyklen aufzeichnen und wiedergeben, vom Schmelzen der Gletscher bis zum Nachwachsen von Korallenriffen. Die kanadische Forscherin und Autorin Karen Bakker beschreibt solche Technologien als eine Art „Google Übersetzer“ zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Doch auch Bildung und politische Diskurse müssen uns auf dieses neue Zuhören vorbereiten.

Wenn wir denen ohne Stimme zuhören, verwandeln wir politische Freiheit in eine zwingende demokratische Mehrheit, so Wendy Brown. Mehr Stimmen und größere Vielfalt fordern dazu auf, sich mit Unterschieden auseinanderzusetzen – unerlässlich für eine reparierende Demokratie, betont sie: Statt zwischen „Freiheit von“ und „Freiheit zu“ zu pendeln, finden wir die „Freiheit mit“.

Rege Diskussion mit dem Publikum

Ob nicht andere menschliche Sinne noch stärker verkümmert seien als das Hören, fragte eine Zuhörerin in der anschließenden Diskussion. „Ich glaube, sie sind alle stumpf“, antwortete Wendy Brown. Das Zuhören sei natürlich nicht der einzige Sinn, den reparierende Demokrat*innen schärfen müssten, sie müssten auch lernen, besser und weiter zu sehen, neugieriger und interpretierender zu riechen, feinfühliger und bewusster zu berühren.

Eine andere Zuhörerin wollte wissen, ob sich Browns Konzept des tiefen Zuhörens auch auf sozio-ökonomische Fragen anwenden lasse. „Wir haben die Welt mit Lärm gefüllt, doch je wohlhabender man ist, desto besser kann man sich dagegen abschirmen“, sagt Wendy Brown. Je ärmer, desto exponierter sei man, etwa in Wohnungen mit dünnen Wänden oder in Häusern, die neben Flughäfen und Autobahnen stehen. Ihre Idee: Hörlabore, in denen jeder erfahren kann, wie es sich anfühlt, etwa neben einem Polizeiübungsplatz zu wohnen, wo Bomben detonieren und Sirenen heulen. Solche Hörlabore wären gleichzeitig Demokratielabore.

Wendy Brown macht ein Selfie mit zwei Zuhörern

Selfie am Bücherstand – Wendy Brown war offen dafür und führte auch nach der Veranstaltung noch viele Gespräche.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Weitere Informationen

  • Die Hegel Lecture 2024 mit Wendy Brown fand am 11. Dezember im Hörsaal 1b, der Rost- und Silberlaube an der Freien Universität Berlin statt.
  • Website zur Lecture

Kontakt

Artikel über vergangene Hegel Lectures auf campus.leben:

  • Die Philosophin Rosi Braidotti plädierte in der Hegel Lecture für eine „Philosophie des großen Ja“: Dem katastrophischen Weltzustand sei mit „affirmativer Ethik“ zu begegnen, Artikel vom 17.08.2023
  • Der Kunstwissenschaftler Victor Stoichita zeigte in der Hegel Lecture am Dahlem Humanities Center auf, wie das Denken des Philosophen von der Symbolik der Malerei geprägt wurde, Artikel vom 16.12.2022