„Der Gegenwart verpflichtet und dem intellektuellen Abenteuer zugewandt“
Am 4. Dezember feierte die Freie Universität Berlin Geburtstag – mit dabei: prominente Gäste aus Wissenschaft und Kultur
10.12.2024
76 Jahre – für eine Universität ist das kein Alter, wenn man bedenkt, wann andere deutsche Hochschulen gegründet worden sind: die Universität Freiburg im Jahr 1457, die Universität zu Köln schon 1388 und nochmal zwei Jahre früher die Uni Heidelberg – die älteste Universität Deutschlands.
Auch von den drei großen Berliner Universitäten ist die Freie Universität die jüngste. Und keine hat eine solch besondere Geschichte: Die Freie Universität wurde im Dezember 1948 im Westsektor Berlins gegründet, im freien Teil der Stadt, aus Protest gegen die politische Einflussnahme an der Berliner Universität Unter den Linden im sowjetischen Sektor.
So liegt es nahe, dass der Begriff der Freiheit von Anfang an in der Geschichte dieser Universität eine begründete Rolle spielte: Studierende, Forschende und die West-Berliner Politik, unterstützt durch die US-amerikanischen Alliierten, wollten in Berlin-Dahlem etwas Neues aufbauen: eine freie Universität, an der neben all den anderen Fächern Demokratie eingeübt werden sollte. Dafür wurden im Blockade-Winter 1948/49 buchstäblich Tische, Stühle und Bücher raus in den Berliner Südwesten geschleppt.
Was Freiheit für die Freie Universität bedeutet, dass der in ihrem Siegel (Veritas, Iustitia, Libertas) verankerte Begriff durch die Jahrzehnte immer wieder neu definiert werden musste, dass darum gestritten wurde und wird, liegt ebenso nahe. Und auch, dass jede*r einen eigenen Begriff von Freiheit hat.
Lea Schneider etwa, die beim Ernst-Reuter-Tag für ihre literaturwissenschaftliche Dissertation über „Radikale Verletzbarkeit als feministische Schreibstrategie“ ausgezeichnet wurde, bedankte sich in ihrer Rede für die Offenheit ihrer Betreuer*innen am Exzellenzcluster Temporal Communities:
„Wahrscheinlich hätte es nicht viele andere Orte gegeben, an denen ich mit einem so ungewöhnlichen Promotionsthema mit so offenen Armen empfangen worden, in meiner intellektuellen Risikobereitschaft immer wieder bestärkt und zugleich in allen Kolloquien, Betreuungsgesprächen, Arbeitsgruppen, Lesekreisen und Kaffeepausen daran erinnert worden wäre, es mir, bei aller exploratorischen Unsicherheit, weder methodisch noch theoretisch zu einfach zu machen.“
Diese Offenheit sage auch etwas über die Freie Universität aus: „Ich jedenfalls“, führte Lea Schneider aus, „nehme sie als eine Universität wahr, die sich in besonderem Maße der Gegenwart verpflichtet und dem intellektuellen Abenteuer zugewandt fühlt – oder, mit anderen Worten: einem Denken, das nicht von Anfang an bereits weiß, wo es hinwill; einem Denken, das sich etwas traut.“
Für Jutta Allmendinger, Soziologieprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat Freiheit mit Vertrauen zu tun. In ihrer Festrede sprach die ehemalige Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Honorarprofessorin der Freien Universität „Über das Vertrauen in die Wissenschaft“ – in Deutschland grundsätzlich hoch (50 bis 60 Prozent) und sogar höher als vor der Pandemie – und über das „Vertrauen in der Wissenschaft“ – hier ist die Situation beklagenswert.
Laut einer von Allmendinger zitierten Umfrage überlegt etwa die Hälfte der Wissenschaftler*innen, das System zu verlassen: 21 Prozent der Professor*innen, 54 Prozent der Juniorprofessor*innen. Überlastung und Unsicherheit für die Lebensplanung sind Gründe, aber auch das fehlende Vertrauen in die Politik: Die Finanzierung von Wissenschaft müsse „auf Dauer gestellt“ sein, unabhängig von amtierenden Regierungen, so Allmendinger. Schließlich käme in Wissenschaft investiertes Geld vielfach zurück: im Falle von außeruniversitären Einrichtungen, das hat die Soziologin gerade erhoben, erhalte der Berliner Senat für jeden investierten Euro acht Euro zurück.
Für die Philosophiestudierende Luna Afra Evans, die zusammen mit Universitätspräsident Günter M. Ziegler, Festrednerin Jutta Allmendinger und der Diseuse Georgette Dee von Moderatorin Sabrina N‘Diaye zu einer kleinen Gesprächsrunde aufs Podium gebeten wurde, hat Freiheit viele Aspekte: Dazu gehört, auch dank der Förderung durch ein Deutschlandstipendium als Erste*r in ihrer Familie studieren zu können.
„Investition in Bildung ist Zukunft“, sagte Georgette Dee und kritisierte die Pläne des Senats, im Zuge der Haushaltskürzungen etwa den freien Eintritt für Museen streichen zu wollen: „Das bringt mich auf die Palme.“ Einig waren sich die Podiumsteilnehmer*innen darin: Wissenschaft, Kultur und Kunst sitzen im selben Boot.
„Wie lässt sich Freiheit an der Freien Universität erhalten, Herr Ziegler?“ wollte die Moderatorin wissen. Die Freie Universität sei immer politisch gewesen, erwiderte der Universitätspräsident. Allerdings müssten die Regeln klar sein: „Die Universität muss ein Raum sein, in dem man politisch sein kann – ohne Gewalt.“ Damit spielte Ziegler auf die Proteste und Auseinandersetzungen auf dem Campus der Freien Universität zwischen verschiedenen politischen Gruppen nach dem Überfall der Hamas auf Israel an, mit einem singulären Gewaltakt am 17. Oktober, dem Angriff von Vermummten auf das Präsidiumsgebäude der Universität.
Dass das Ringen um den politischen Raum an der Freien Universität Berlin zu ihrer Geschichte gehört und wie sehr es mit dem Verständnis von Freiheit verknüpft ist, machte der Universitätspräsident in seiner Rede an einem Beispiel fest: Am 12. Februar 1959 hatte Wilhelm Weischedel, damals Philosophieprofessor an der FU und durch sein Buch „Die philosophische Hintertreppe“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt, im Audimax eine besondere Vorlesung gehalten. Anlass war der sogenannte Atomkongress, an dem Studierende teilgenommen hatten und an deren Seite sich Weischedel stellte.
Vom Mut der Freiheit und von der Offenheit der Freiheit sprach der Philosoph in seiner Vorlesung und definierte: Das einzige Dogma der Freiheit ist der Verzicht auf dogmatische Versteifung. Frei ist nur, wer die Freiheit der anderen achtet. Freiheit ist nichts Gegebenes oder Ererbtes, Freiheit ist die Entscheidung gegen den Zwang. An die Grenze der Freiheit gerät, wer seinerseits die Freiheit abweist.
„Das steht und wirkt für sich“, sagte Universitätspräsident Ziegler. Weischedels Ausführungen vor 65 Jahren, am selben Ort, an dem am 4. Dezember 2024 der Geburtstag der Freien Universität Berlin gefeiert wurde, können heute auch als Anleitung für eine differenzierte, respektvolle Debattenkultur auf dem Campus verstanden werden.
Wer am Nachmittag dieses 4. Dezembers in den Henry-Ford-Bau gekommen war, bekam noch ein Konzert geschenkt: Die große Georgette Dee, aus dem Berliner Kulturleben nicht wegzudenken, seit Jahrzehnten erfolgreich mit eigenen Liedern und Interpretationen anderer Künstler*innen auf der Bühne, besang mit ihrem Klassiker „Zehn Frauen möcht‘ ich sein“ die Gleichzeitigkeit des Lebens, sang Brecht, Schubert und zitierte Walt Whitman. „Mehr ist mehr“ ist ihre Devise. „Du glaubst nicht an Wunder, doch wir leben auf einem blauen Planeten, der sich um einen Feuerball dreht“, hieß es im Refrain eines Liedes. Alles ist möglich. Sie ist so frei.