„Drei Viertel aller Tiere sind verschwunden“
Dramatischer Verlust an Biodiversität: Die Biologin Katrin Böhning-Gaese hielt die Einstein Lecture an der Freien Universität Berlin
13.11.2024
Katrin Böhning-Gaese warnte vor dem Artensterben: „Seit meiner Schulzeit sind drei Viertel der auf diesem Planeten lebenden Tiere verschwunden.“
Bildquelle: Christoph Assmann
Der Verlust an Biodiversität auf unserem Planeten ist dramatisch. Der Rückgang der Arten bringt nicht nur Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, sondern wirkt sich auch auf uns Menschen aus, sagt die Biologin Katrin Böhning-Gaese. In der diesjährigen Einstein Lecture Dahlem zeigte sie auf, welche Folgen für Mensch und Umwelt drohen – und wie sich die Entwicklung stoppen lässt.
Eine Million Arten sind akut vom Aussterben bedroht
Die Anzahl der Tiere auf unserem Planeten ist, ebenso wie die Vielfalt der Arten und ihrer Lebensräume, in den vergangenen 50 Jahren dramatisch zurückgegangen. Nach Zahlen des WWF ist die Anzahl sämtlicher auf der Erde lebenden Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere seit 1970 um 73 Prozent gesunken. Von weltweit rund acht Millionen bekannten Tier- und Pflanzenarten sind heute eine Million akut vom Aussterben bedroht. „Seit meiner Schulzeit“, sagt Katrin Böhning-Gaese, „sind drei Viertel der auf diesem Planeten lebenden Tiere verschwunden.“
Die Biologin ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung und Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Katrin Böhning-Gaese gilt als eine der weltweit führenden Expert*innen auf dem Gebiet der Ökologie und der Analyse komplexer, regionaler wie globaler Umweltsysteme. In diesem Jahr hielt sie an der Freien Universität die renommierte Einstein Lecture Dahlem, mit der das epochale Wirken Albert Einsteins in Berlin gewürdigt wird.In ihrem Vortrag widmete sich Katrin Böhning-Gaese dem dramatischen Verlust an Biodiversität in Zeiten von Klimawandel und ausgreifender Landnutzung. „Dieser Verlust trifft nicht nur Ökosysteme weltweit“, sagt sie. „Sondern hat auch gravierende Folgen für unser Wohlergehen.“
Katrin Böhning-Gaese unterscheidet zwischen verschiedenen sogenannten Ökosystemleistungen, die durch den Rückgang an Biodiversität vermindert würden. An erster Stelle stehen dabei regulierende Ökosystemleistungen. Darunter werden Prozesse verstanden, mit denen sich die Natur selbst im Gleichgewicht hält und regeneriert – beispielsweise durch Prozesse der Samenausbreitung.
„In den Tropen werden die Samen von 90 bis 95 Prozent aller Baumarten durch Tiere verbreitet, vor allem früchtefressende Vögel“, sagt Böhning-Gaese. „Wenn Vogelarten wie beispielsweise der Tucan dezimiert werden, verändert sich ganze Wälder.“
Verlust von Vögeln und Fledermäusen mindert auch Kaffee-Erträge
Wenn diese Systeme aus dem Gleichgewicht geraten, wirkt sich dies auch auf Menschen aus. Wir verlieren materielle wie immaterielle Leistungen, die wir aus der Natur beziehen – sauberes Wasser, hochwertige Nahrungsquellen, Naturverbundenheit und Wohlbefinden.
In einem Forschungsprojekt am Fuße des Kilimandscharo in Tansania konnte Böhning-Gaese etwa nachweisen, dass der Rückgang von Vögeln und Fledermäusen den Ertrag der dortigen Kaffeebauern mindert. „Die Tiere sind natürliche Feinde vieler Insekten“, sagt Böhning-Gaese. „Bleiben sie fort, nehmen die Schädlinge auf den Plantagen zu und führen zu schlechteren Ernten.“
Die diesjährige Einstein Lecture fand im Max-Kade-Auditorium der Freien Universität Berlin statt.
Bildquelle: Christoph Assmann
Studien über die Zufriedenheit von Menschen in verschiedenen Regionen in Europa zeigen, dass der Rückgang der Artenvielfalt auch einen generellen Verlust an Lebensqualität mit sich bringen kann. „Wir sehen beispielsweise, dass überall dort, wo Menschen besonders zufrieden sind, auch eine hohe Vogelvielfalt zu finden ist“, sagt Böhning-Gaese. „Biodiversität und Lebensqualität hängen statistisch ähnlich stark zusammen wie Lebensqualität und Einkommen.“
Der Verlust an Biodiversität, erläutert die Biologin, ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: Landnutzungsverhalten und Klimawandel. „Durch den Klimawandel kommt es regional vor allem zu einem Artenaustausch“, sagt Böhning-Gaese. „Wärmeliebende Arten wandern ein, Kälteliebende wandern oder sterben aus.“
Vor allem durch Landnutzung verlieren Tiere und Pflanzen ihre Lebensgrundlage
Das Landnutzungsverhalten bestimme dagegen, wie viele Tiere in einer Region überhaupt leben können. Durch die größere Ausbreitung des Menschen und den Verlust von Wäldern, beispielsweise durch eine intensive Landwirtschaft, verlieren die Tiere ihre Lebensgrundlagen. „Einen besonders großen Verlust an Biodiversität und funktionierenden Ökosystemen sehen wir überall dort, wo beide Faktoren zusammenspielen“, sagt Böhning-Gaese. „Eine intensive Landnutzung in heißen, trockenen Gebieten.“
Wie aber lässt sich die Entwicklung stoppen oder gar rückgängig machen? Als entscheidende Bausteine sieht die Biologin zum einen die Einrichtung von Schutzgebieten, zum anderen die Transformation des Landwirtschafts- und Ernährungssystems.
Die Politik setzt falsche Anreize
„Mit der derzeitigen Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union bekommen vor allem die Großbetriebe viel Fördergelder“, sagt Böhning-Gaese. „Wir brauchen hier einen politischen Wandel, der nach anderen Kriterien als nach der Größe bemisst, beispielsweise anhand der Gemeinwohlleistungen für Biodiversität, Klima und Wasserschutz.“
Auch brauche es einen technischen Wandel – mehr Digitalisierung und robustere Sorten, die weniger Pflanzenschutzmittel und Wasser beanspruchen und besser mit steigenden Temperaturen zurechtkommen. Vor allem brauche es auch eine Umstellung des Konsumverhaltens. Hier sind es vor allem zwei Faktoren, die Böhning-Gaese benennt: Lebensmittelverschwendung und flächenintensiven Fleischkonsum.
„Ein Mensch in Deutschland beansprucht für seinen jährlichen Konsum hierzulande etwa 25 x 25 Meter Ackerfläche“, sagt sie. „Durch Importe kommen allerdings global noch etwa 35 x 35 m oben drauf – vor allem im globalen Süden, dort, wo die meisten Tier- und Pflanzenarten leben und wegen ihrer kleinen Verbreitungsgebiete oder Seltenheit ohnehin besonders gefährdet sind.“
Die Erzeugung von Rindfleisch braucht 160 Mal so viel Ackerfläche wie die von Kartoffeln
Zum Schutz der Biodiversität müsse vor allem der Verbrauch von Landflächen gesenkt werden. Dies sei auch beim Fleischkonsum zu beachten: „Ein gemäßigter Konsum von Fleisch von lokalen Weidetieren kann ökologisch durchaus sinnvoll sein“, sagt Böhning-Gaese. „Allerdings muss man sich bewusst sein, dass für ein Kilo Rindfleisch etwa 160 Mal so viel Ackerfläche gebraucht wird wie für die gleiche Menge an Kartoffeln.“
Damit der Schutz der Biodiversität langfristig gelingen kann, brauche es einen tiefgreifenden Wandel in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Böhning-Gaese schließt ihren Vortrag mit einem Zitat Albert Einsteins: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“