Wiederaufbau unter Beschuss
Jaco Cilliers leitet das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in der Ukraine. An der Freien Universität Berlin berichtete er, wie das Programm trotz Krieg arbeitet
05.07.2024
Ukraine unter Beschuss: Blick auf ein Kiewer Wohnhaus, das bei einem russischen Angriff beschädigt wurde.
Bildquelle: Oleksandr Ratushniak / UNDP Ukraine
Der Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in der Ukraine, Jaco Cilliers, hat an der Freien Universität Berlin einen Vortrag gehalten über die Herausforderungen und Bedeutung des Wiederaufbaus der Ukraine angesichts der andauernden massiven Zerstörung durch die russische Invasion. Der Vortrag fand während eines Deutschlandbesuchs von Jaco Cilliers statt. Er war Teil der durch UNDP-Leiter Achim Steiner angeführten Delegation bei der 3. Ukraine Recovery Conference, die vom 11. bis 12. Juni 2024 in Berlin auf Einladung von Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundeskanzler Olaf Scholz stattfand. Der Vortrag war zugleich die Auftaktveranstaltung für den Workshop „Rebuilding Ukraine – The Social Dimension“ des Osteuropa-Instituts der Freien Universität in Verbindung mit dem Virtual Ukraine Institute for Advanced Study und der Europa-Universität Viadrina.
Man kann die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine an vielen Zahlen ablesen: Mehr als zehn Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen, zwei Drittel davon sind ins Ausland geflüchtet. Die Armutsquote ist in die Höhe geschossen, innerhalb von einem Jahr von fünfeinhalb Prozent auf fast ein Viertel der Bevölkerung. Gleichzeitig ist die Wirtschaft eingebrochen, fast ein Drittel aller Arbeitsplätze ist verloren gegangen. 486 Milliarden US-Dollar wird der Wiederaufbau kosten, so eine Studie der Weltbank unter Beteiligung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP).
Ist eine nachhaltige Entwicklung während des Kriegs möglich?
Es ist eine gewaltige Aufgabe, die nur mit internationaler Unterstützung zu bewältigen ist. Darum fand im Juni in Berlin eine zweitägige Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine statt, an der Vertreter von mehr als 70 Staaten teilnahmen. Auch Jaco Cilliers war dabei: Der gebürtige Südafrikaner leitet seit Ende 2022 als Resident Representative die Aktivitäten des UNDP in der Ukraine. „Die Konferenz hat erneut gezeigt, wie groß die Solidarität der restlichen Welt mit der Not in der Ukraine ist“, sagte Cilliers nach der Konferenz in einem Vortrag an der Freien Universität Berlin, in dem er von den Bemühungen um den Wiederaufbau berichtete.
Seit 1993 ist das UNDP in der Ukraine aktiv, heute arbeiten 439 Beschäftigte in zahlreichen Büros der Organisation im ganzen Land, mehr als 90 Prozent davon sind Ukrainerinnen und Ukrainer. Das Programm hilft, Kriegsschäden zu beheben, hat Hunderttausende Tonnen Schutt zerstörter Gebäude abgetragen und eine riesige Fläche auf Minen und Blindgänger untersucht.
Jaco Cilliers (UNDP-Länderchef Ukraine), Professorin Katharina Bluhm (Forschungsdekanin am Osteuropa-Institut der Freien Universität) und Herbert Grieshop (Leiter des FU-International Office)
Bildquelle: Jonas Huggins
Die Hilfe soll jedoch nicht nur die unmittelbare Not lindern, sondern auch eine langfristige Entwicklung ermöglichen. „Entwicklung macht keine Pause, auch zu Kriegszeiten nicht“, sagte Jaco Cilliers. Das UNDP habe auch die Ziele der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung nicht aufgegeben. Die zahlreichen Einzelprojekte des UNDP ordnete er fünf Bereichen zu, neben der Krisenbewältigung und dem Wiederaufbau sind dies öffentliche Dienstleistungen, inklusives Wirtschaftswachstum und sozialer Zusammenhalt.
Ein Schwerpunkt liegt in der Digitalisierung. Darin sei die ukrainische Gesellschaft ohnehin weit vorangeschritten, digitales Bezahlen in jedem Geschäft eine Selbstverständlichkeit, berichtete Cilliers. UNDP unterstütze nun die Verwaltung dabei, mit digitalen Angeboten auch für die Menschen aus den besetzten Gebieten zugänglich zu sein, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Das Programm hat Dokumente gescannt, die aus den Archiven der Oblasten Donezk und Luhansk vor den russischen Besatzern gerettet werden konnten, darunter Urkunden über Geburten, Sterbefälle und Namensänderungen.
Wenig Mittel für „weiche“ Infrastruktur
Einfach ist die Arbeit des UNDP nicht. Zum einen seien bei aller internationaler Solidarität die Ressourcen knapp. Es sei noch verhältnismäßig einfach, Finanzierung für die sogenannte harte Infrastruktur zu gewinnen, sagte Jaco Cilliers: Dinge, die man sehen und anfassen kann, etwa Kindertagesstätten und Wohnhäuser. Schwieriger sei es, Gelder für Dinge von abstraktem Wert aufzubringen wie eine gute Verwaltung, soziale Versorgung, Rechtsstaatlichkeit oder der Schutz von Menschenrechten. Das UNDP fördert beispielsweise die Reintegration von Kriegsveteranen und bietet kostenlose Rechtsberatung an. „Für diese wichtigen Aufgaben haben wir leider die wenigsten Mittel“, sagte Jaco Cilliers.
Zum anderen ist der fortdauernde Krieg nicht nur eine physische Gefahr. „Die Auswirkungen auf die seelische Gesundheit sind gravierend“, sagte Jaco Cilliers. Zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter viele Kinder, seien akut gefährdet, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. In einer Umfrage unter den 3000 Beschäftigten aller UN-Organisationen in der Ukraine habe fast die Hälfte angegeben, dass sie unter einer Belastungsstörung leide. Jeder kenne Menschen, die gestorben sind. „Der Krieg ist zwar nicht im ganzen Land, er ist hauptsächlich auf den Osten beschränkt“, sagte Cilliers, „betroffen sind aber alle.“
Weitere Informationen
Vortrag fand im Rahmen der International Week an der Freien Universität Berlin statt
Der Workshop „Rebuilding Ukraine – The Social Dimension“ des Osteuropa-Instituts der Freien Universität“ und der Vortrag von Jaco Cilliers waren Teil der International Week, die alljährlich an der Freien Universität stattfindet. In diesem Jahr, in dem das International Office der Freien Universität das 75. Jubiläum feiert, fand die International Week im Format XXL statt, und die Veranstaltungen erstreckten sich über den gesamten Monat Juni.
Aktuelle internationale Aktivitäten der Universität, länderspezifische Kooperationsprogramme, spezielle Angebote für internationale Studierende oder Förderprogramme: Darüber konnten sich Studierende, Forschende und Beschäftigte der Freien Universität hochschulweit in fast fünfzig Vorträgen und Workshops sowie einigen Get-togethers informieren und austauschen.
Beziehungen der Freien Universität zu Russland und nach Osteuropa
Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 setzte die Freie Universität Berlin ihre Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen in Russland aus. Alle Partnerschaftsaktivitäten mit wissenschaftlichen Institutionen in Russland ruhen seither. Dies umfasst auch den Studierendenaustausch und die strategische Partnerschaft mit der Universität Sankt Petersburg. Das Verbindungsbüro der Freien Universität in Moskau wurde geschlossen und in die georgische Hauptstadt Tbilissi verlegt.
Die Freie Universität engagiert sich für geflüchtete und gefährdete Forschende aus der Ukraine. Es wurde ein Programm mit Kurzstipendien eingerichtet – darunter auch sogenannte Remote-Stipendien für Ukrainer*innen die an einer anderen sicheren ukrainischen Partnereinrichtung weiterarbeiten –, das über 50 Personen in Anspruch genommen haben. Die an der Freien Universität Geförderten waren vor allem am Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft und am Osteuropa-Institut tätig. Außerdem bietet die Freie Universität zusätzliche Sprachkurse für geflüchtete Studierende an, die von vielen Ukrainer*innen und Studierenden aus der Ukraine besucht werden. Seit Beginn des Krieges hat die Universität ihre Beziehungen zu Hochschulen in der Ukraine Osteuropa ausgebaut.